Von Annette Scholz

In den letzten Dezembertagen überhäuften sich die Memes, die ich per Whatsapp erhielt, die mit Sehnsucht dem neuen Jahr entgegenfieberten. Es stellte sich in meinem Umkreis eine Art Überzeugung ein, dass im Januar 2021 alles schlagartig anders würde, Corona der Vergangenheit angehören und wir alle wieder in die alte Realität zurückkehren könnten.
„Ich wünsche dir, ein ganz normales nächstes Jahr”, erreichte mich eine Nachricht und eine andere, die Snoopys Freunde Linus und Lucy in einer Unterhaltung zeigte:
„Ich wünsche dir ein gutes neues Jahr”, sagte Linus, während die kecke und mir als etwas nörgelige und pingelige kleine Frau in Erinnerung gebliebene Lucy erwiderte: „Mir reicht ein gebrauchtes. Eines von denen, in denen man besser gelebt hat.”
Generell herrschte eine etwas resignierte Stimmung, mit den Corona-Maßnahmen in Madrid kannte sich keiner mehr richtig aus und bei einem Spaziergang durch die Straßen, entstand in Anbetracht der vielen Großfamilien, die sich auf den Spazierwegen tummelten, der Eindruck, dass eigentlich schon alles vorbei sei.
Weihnachten verzichteten einige auf die vielzähligen Treffen mit entfernten Familienmitgliedern, um die Auflage der maximal Sechs-Personen-Gruppe, an die wir uns noch erinnerten, nicht zu überschreiten. Natürlich nicht ohne gewisse Konflikte innerhalb der Familien auszulösen, denn es musste ja eine Auswahl getroffen werden, wer im inner circle mitfeiern durfte und wer nicht.
Auch bei uns war alles anders. Der Plan, die fast dreiwöchigen Weihnachtsferien bei Oma und Opa in Deutschland zu verbringen, hatte uns Corona selbstredend vereitelt. Nicht ohne Missmut zu verbreiten, habe ich mich nach reiflicher Überlegung dann für die ganz spartanische Variante entschieden. Emma und ich verbrachten den Heiligen Abend erstmals alleine zu Hause, ohne Weihnachtstanne, dafür aber mit einem geschmückten laublosen Ast, Fondue, Tanz und Geschenken, während der Rest der Patchwork-Familie in anderen Haushalten die üblichen Gambas zu sich nahmen.
Mit unseren burbujas, den Wahlgruppen, die wir seit Corona-Start treffen, haben wir dann nachgefeiert, einmal mit Fondue und Wanderung und einmal mexikanisch, auch mit einem ausgedehnten Spaziergang vorweg.
Silvester war Emma mit Papa bei ihren großen Geschwistern und ich habe mich für eine völlig neue Party-Variante entschieden, vor der ich mich mein ganzes Leben lang gefürchtet hatte, mit me, myself and I. Der Gedanke, das neue Jahr alleine zu beginnen, war für mich immer eine Vorstellung von absoluter Einsamkeit, sich verlassen und ungeliebt zu fühlen, verstoßen von der Welt. Mein Bruder hat vor langer Zeit einmal den letzten Jahrestag alleine verbracht und mir damals etwas trocken erzählt, dass er ein gutes Buch lesen würde und dann ins Bett ginge. Er tat mir damals schrecklich leid.
Ich nahm mir vor, mir selbst eine Hommage zu erweisen und es möglichst schön zu haben. Es gab gebratene Entenbrust und Salat und tatsächlich eine ganze Flasche Freixenet Brut mit gefrorenen Erdbeeren über den Abend verteilt. Die traditionellen uvas, Trauben, die mit den zwölf Glockenschlägen der Uhr an der Puerta de Sol eingenommen werden, habe ich banausenhaft durch zwölf Schlückchen Sekt ersetzt – der hatte nicht so viele Kerne. Ob das Glück bringt, werden wir sehen.
Es war ein passendes Ende für dieses seltsame Jahr, das uns neue Grenzen gesetzt, neue Komfortzonen geschaffen und neue Interessen kreiert hat. Und Trübsal musste ich gar keine blasen, ganz im Gegenteil, ich bin zu Dancing with myself von Billy Idol über den Parkettboden geschlittert und habe abwechselnd wild mit meinen Armen durch die Luft gerudert oder die Luftgitarre geschrubbt.
Meine Nachbarn konnten sich dann einmal mehr über die komische Deutsche wundern, die kurz nach 0 Uhr auf der Terrasse stand und „Prost Neujahr!” ins Dunkel rief. Das tat ich natürlich zunächst nur in der Annahme, dass selbstverständlich von irgendwo ein Echo zurückkäme, so wie ich es aus Deutschland gewohnt bin. Als das trotz der hell erleuchteten Fenster in den umliegenden Wohnungen, leider ausblieb, zog ich mich wieder ins Warme zurück und sang mehrfach den jährlichen Neujahrsgruß euphorisch ins Telefon – leider blieb er auch dort zunächst unbeantwortet.
Ganz traditionell habe ich mit meinem Kollegen Luis und meiner socia, Projektpartnerin Marta in Frankreich auch bei den spanischen Weihnachtslotterien mitgespielt. El gordo am 22. Dezember brachte Luis und mir immerhin 100,- Euro und El niño, am 6. Januar für Marta und mich 40,-.
Eigentlich sah für das neue Jahr doch alles ganz rosig aus, Glück im Spiel – wenigstens etwas -, viele neue Projekte und vielleicht das Wichtigste: Hoffnung auf eine baldige Corona-Impfung und die damit zurückkehrende ,alte Normalität’.
Wir saßen am 8. Januar, dem vermeintlich letzten schulfreien Freitag nach dem Frühstück am Wohnzimmertisch und spielten Fantasma-Blitz, ein Aufmerksamkeits- und Reflex-Spiel, das ich besonders mag, weil ich, nicht wie beim traditionellen Memory, noch Chancen gegen meine Tochter habe. Als ich gerade mal wieder nach dem weißen Holz-Geist griff, der auf der aufgedeckten Karte zu sehen war, um diesen Zug für mich zu entscheiden, rief Emma nur abgelenkt:
„Mama, guck mal, es schneit!”
Nicht ohne zuvor noch die gewonnene Karte einzuheimsen, schaute ich auch nach draußen und erwiderte: „Stimmt, es schneit! Und der Schnee bleibt sogar liegen! Mal sehen wie lange.”
Danach konnte ich die Partie recht leicht für mich entscheiden, da Emmas Aufmerksamkeit durch den Schneefall ganz und gar woanders war. Wir verzichteten auf eine weitere Runde und betrachteten lieber das winterliche Schauspiel durch die großen Terrassenfenster.
Einmal jährlich fahren wir in die Sierra de Madrid zum Schlittenfahren. Auch 2020 waren wir zwischen den Jahren noch im Schnee, bevor nun der Schnee zu uns kam. In fast zwanzig Jahren war es das erste Mal, dass ich es so viel vor meiner Haustür habe schneien sehen, wobei dadurch die Erinnerung an meinen letzten Winter an der Universität Mannheim wieder geweckt wurde, in dem die Temperatur mehrere Wochen nicht mehr über -20º Grad anstieg, der Moonboots-Look angesagt war und sich eine gewisse Après-Ski-Stimmung auf den Studentenfeten einstellte. Eisflächen auf den Bürgersteigen erschwerten die Wege in die Uni und zu den Freunden, der geräumte Schnee türmte sich an den Straßenrändern. Das hatte ich seitdem nicht mehr gesehen, da ich auch die langjährige Tradition der Skiurlaube nicht fortgeführt hatte. Emma war ein solches Erlebnis, bis auf vereinzelte Tage mit Schnee vor der Haustür bei Oma und Opa, bisher noch nicht vergönnt gewesen.
Jetzt schneite es also und sowohl direkt auf unseren Zitronen-, Orangen- und Olivenbaum, als auch auf unsere mediterranen Oleander. „Wer überlebt, bleibt!” ist meine Devise für die Bepflanzung der Terrassen, ohne zu ahnen, dass die Flora in Montecarmelo jetzt Extrembedingungen ausgesetzt werden sollte.
„Am Donnerstag nach der Schule möchte ich mit Emma nochmal in die Berge fahren”, schrieb ich Anette noch ganz euphorisch, um ihr anzubieten, sie und ihre Tochter auf einen Schlittenausflug mitzunehmen.
„Der Schnee ist jetzt ja zu uns gekommen”, kam die etwas ernüchternde Antwort, „außerdem sind in den Bergen die Straßen gesperrt und es gilt Lawinenwarnung.”
Das Sturmtief Filomena war in den ersten Januar-Tagen über Madrid hinweggezogen und sollte einen historischen Schneefall in der spanischen Hauptstadt hervorbringen. Eine solche Menge war seit 1984 nicht mehr gefallen.
„Emma, komm, zieh Schneehose, Handschuhe und dicke Schuhe an, wir gehen raus!” Für meine Tochter war diese Aufforderung der Startschuss für ein neues Abenteuer. Mitten im Sturm marschierten wir durch den schon knöchelhohen Schnee in den Pardo, um eine erste Schneefrau zu bauen. Sie sollte an der ersten Weggabelung im Naturpark stehen.
„Mama, wie macht man das denn?”, fragte mich Emma, woraufhin ich erst kleine Klöße mit ihr formte und dann daraus große Kugeln rollte, die wir aufeinander stapelten. Meine Tochter hat eine Liebe zum Detail und bastelte der Schneedame mit recht großen Brüsten, Steinaugen und Schilfhaaren schließlich eine Schnee-Baskenmütze mit Zipfelchen und beschloss, dass sie Französin sei und Schneewante hieße. Tatsächlich fehlte ihr nur das Baguette unter dem Arm.
Es sollte noch die ganze Nacht und den ganzen folgenden Samstag weiter schneien.
Am nächsten Morgen war von der Terrassen-Flora nicht mehr viel zu sehen, alle Töpfe waren unter einer dicken Schneedecke verschwunden, von der man das Gefühl hatte, sie wollte sich auch im Wohnzimmer und der Küche breit machen. Ein visuelles Spektakel, verschönert durch die unberührte, glitzernde Pulverschneedecke, die durch den unaufhörlichen Schneefall kontinuierlich an Höhe gewann, sodass der Ausblick nach draußen langsam eingeschränkt wurde.
„Komm, Emma, wir gehen Schneewante besuchen!”, gab ich meiner Tochter das Stichwort, die überraschenderweise schon angezogen am Frühstückstisch saß. Es kommt selten vor, dass sie auf mich warten muss, wenn wir das Haus verlassen wollen, aber diesmal holte sie sogar freiwillig alleine den Schlitten aus dem dunklen Keller, bevor ich überhaupt die Fellschuhe anziehen konnte.
Als wir aus dem Hauseingang kamen, fanden wir den Hof des Gebäudes bedeckt mit Schnee, wobei nur ein kleiner matschiger Trampelpfad es ermöglichte, zum Haustor zu gelangen. Außerhalb unserer urbanización wurde das Fortkommen erheblich schwerer, da der Schnee uns nun bis zu den Knien reichte, auf der Straße, auf dem Bürgersteig, überall.
„In Deutschland ist jeder Hausbesitzer, beziehungsweise jede Eigentümergemeinschaft oder Hausverwaltung dafür verantwortlich, den Schnee um die eigenen Gebäude zu räumen, damit mögliche Unfälle verhindert werden”, erklärte ich Emma.
„Warum wird das hier nicht gemacht?”, fragte sie mich.
„In Madrid schneit es so selten und wenn, dann nur so wenig, dass bisher keine Regeln nötig waren, um das Schneeräumen zu organisieren“.
Tatsächlich war es, als würden wir über die weiße Schneedecke geradewegs in das letzte Jahrhundert stapfen, da alles eingeschneit war, keine Autos fuhren und auf den Straßen in Montecarmelo Volksfeststimmung herrschte. Wir schienen mitten in dem Winter-Wimmelbuch zu stecken, das ich mit Emma als Kleinkind so oft ansehen musste. Unsere Nachbarn bauten an Schneewällen für eine großzügige Schneeballschlacht, die Kellner vom Restaurant auf der anderen Straßenseite ließen sich ungehemmt in die weiche Schneedecke plumpsen, um Engel abzuzeichnen, während die Kinder von gegenüber quietschend an Schneemännern bauten, die die vermeintlichen Fahrspuren für Autos blockierten.
Alles war weiß und Emma und ich hatten diesmal den Schlitten dabei, einen aus rotem Plastik, den meine Mutter früher Bob nannte. Ich zog Emma damit durch die Straße in Richtung Pardo, die dabei strahlend in die Luft schaute, ihre Zunge rausstreckte, um Schneeflocken aufzufangen und sie genüsslich schmelzen zu lassen.
Auf dem Weg in den Pardo bahnten wir uns einen Trampelpfad durch die Schneemassen und am ersten Hang angekommen, versuchten wir unser Glück im Bob. Nach knapp zwei Metern Abfahrt steckte dieser im Pulverschnee fest. Trotz Hochbetrieb am Hang, gelang es uns aber mit Hartnäckigkeit und vielen Aufstiegen und Abfahrten eine Rodelbahn zu furchen, die bei verschiedenen spanischen Familien schnell auf Anklang stieß. Ich fragte mich kurz, ob ich wie in einem Erlebnispark für eine Fahrt im Bob nicht eine Ticket verkaufen könnte, bevor ich freizügig den Zweitgeborenen einer Familie auf die Piste ließ.
„Ist das cool, die hat sogar Kurven”, bestätigte sein Vater, bevor das Handy gezückt wurde, um den knapp Vierjährigen bei seinem ersten Absturz zu filmen.
Als auf unserer Rodelbahn Andrang herrschte, machten wir uns auf den Weg zu Schneewante im Pardo, nicht ohne zuvor noch die anderen Schneetollen zu beobachten, die sich mit Schaumstoff-Bodybords in die weißen Wellen stürzten. Leider fanden wir von unserer Schneelady nur noch Überreste. Als wir vor ihrem vereisten Unterteil inmitten von lauter Pulverschnee standen, rief Emma ganz entsetzt:
„Das war der Schneefrauenmörder. Sie ist weg. Wer macht denn sowas und warum?”
Sie hatte Schneewante wirklich ins Herz geschlossen, beugte sich schluchzend über die vereiste Kugel am Boden und fragte mich: „Was machen wir denn jetzt mit ihr?”
Als sie mich so mit ihren Kinderaugen ansah, hatte ich das Gefühl, ihr kämen die Tränen und konnte nicht anders, als zu antworten:
„Wir bauen sie wieder auf! Heute liegt noch viel mehr Schnee, da geht das noch viel besser!”
Die zweite Schneefrau tauften wir Königin Filmomena, da wir ihr drei kleine Steinchen auf den Kopf setzten, die wie eine Krone auf ihrer Stirn prangten. Obwohl sie etwas unwirsch aussah, mochten wir sie beide auf Anhieb. Auch sie sollte nicht unsere letzte Schneeskulptur gewesen sein. Am nächsten Morgen zerstörten wir die weiße Idylle auf der Terrasse und verwandelten sie in Filomena II. und ihre Tochter. Emma spielte den halben Tag in ,unserem’ Schnee, freute sich, dass Filomena II. und ihre Tochter vor dem Schneefrauenmörder sicher waren und befreite die Flora auf Omas Anraten von der weißen Last, während wir die Nachbarn beobachten konnten, die den Schnee mit Eimern vom Balkon in die Badewanne trugen.
Nicht nur sie schienen wegen der Schneemassen beunruhigt, auch die Hausverwaltung schickte uns ein Rundschreiben mit Tipps für das Überleben bei Minusgraden. Tatsächlich habe ich nur wenige befolgt. Weder bin ich zu Hause geblieben, noch habe ich die Rollläden geschlossen, um die Wärme einzudämmen. Die Badewanne habe ich auch nicht mit Wasser volllaufen lassen, noch die Rohre umständlich isoliert. Ich vertraue darauf, dass die Temperaturen nach ein paar Tagen wieder steigen, der Schnee schmilzt und dann alles wieder normal wird. Wahrscheinlich erinnern wir uns danach alle wieder an die herrschende Pandemie, deren dritte Welle für Januar in Spanien ja schon vorprogrammiert war.
Die Tatsache, dass die Schulen geschlossen und die Erwachsenen ins home office geschickt wurden, da derzeit die Straßen in Madrid kaum zu befahren sind, erinnert doch sehr an den Lockdown im letzten Frühjahr, nur, dass wir jetzt raus dürfen aber nicht mehr richtig können. So schön das winterliche Schauspiel auch ist, es hat zur Folge, dass die Supermärkte in Montecarmelo leer gekauft sind, dass Krankenhäuser außer mit COVID19-Patienten, jetzt auch noch mit Knochenbrüchen und Gelenkschmerzen kämpfen müssen und dass verschiedene Krankenstationen wegen der prekären Verkehrslage unterbesetzt sind. Auch wenn die meisten Schneefreunde weiterhin ihre Maske tragen, wird das Gefühl verstärkt, dass COVID19 eigentlich der Vergangenheit angehört, auch wenn die Inzidenzzahlen wieder gestiegen sind.
„Filomena ist die einzige, die denn Mumm hatte, uns in den Lockdown zu schicken”, hieß es in einem der letzten Memes, das ich diesbezüglich bekam.
Außer einem Video, das einen Sportler zeigte, der mit Skiern durch die Straßen Madrids sauste, erreichte mich eines aus dem verschneiten Alcalá. Die Aufnahmen der katastrophalen Zustände mit umgestürzten Bäumen, abgebrochenen Ästen und Schneemassen rund um meinen Arbeitsplatz, beeindruckten mich genauso wie der ältere Herr, der das distopische Szenario kommentierte. Er lief im Slalom durch die verschneiten Straßen der Stadt, vorbei an allen Hindernissen. Wegen der Kälte vermummte Menschen kamen ihm entgegen und wichen vor seiner Kamera zurück, soweit ihnen das trotz der liegengebliebenen Autos und des Geästs noch möglich war – ein Schauplatz des Chaos: „Wir haben den Virus erlebt, nun den Schneesturm, was kann uns jetzt noch erwarten?”, fragte er seine Zuschauer resigniert, während er die Kamera auf eine verwüstete Straßenecke hielt, hinter der die vermeintlich nächste Gefahr lauerte.