10.01.2021 Epilog: Winter is coming

Von Annette Scholz

El Pardo, © Annette Scholz

In den letzten Dezembertagen überhäuften sich die Memes, die ich per Whatsapp erhielt, die mit Sehnsucht dem neuen Jahr entgegenfieberten. Es stellte sich in meinem Umkreis eine Art Überzeugung ein, dass im Januar 2021 alles schlagartig anders würde, Corona der Vergangenheit angehören und wir alle wieder in die alte Realität zurückkehren könnten.
„Ich wünsche dir, ein ganz normales nächstes Jahr”, erreichte mich eine Nachricht und eine andere, die Snoopys Freunde Linus und Lucy in einer Unterhaltung zeigte:
„Ich wünsche dir ein gutes neues Jahr”, sagte Linus, während die kecke und mir als etwas nörgelige und pingelige kleine Frau in Erinnerung gebliebene Lucy erwiderte: „Mir reicht ein gebrauchtes. Eines von denen, in denen man besser gelebt hat.”

Generell herrschte eine etwas resignierte Stimmung, mit den Corona-Maßnahmen in Madrid kannte sich keiner mehr richtig aus und bei einem Spaziergang durch die Straßen, entstand in Anbetracht der vielen Großfamilien, die sich auf den Spazierwegen tummelten, der Eindruck, dass eigentlich schon alles vorbei sei.
Weihnachten verzichteten einige auf die vielzähligen Treffen mit entfernten Familienmitgliedern, um die Auflage der maximal Sechs-Personen-Gruppe, an die wir uns noch erinnerten, nicht zu überschreiten. Natürlich nicht ohne gewisse Konflikte innerhalb der Familien auszulösen, denn es musste ja eine Auswahl getroffen werden, wer im inner circle mitfeiern durfte und wer nicht.
Auch bei uns war alles anders. Der Plan, die fast dreiwöchigen Weihnachtsferien bei Oma und Opa in Deutschland zu verbringen, hatte uns Corona selbstredend vereitelt. Nicht ohne Missmut zu verbreiten, habe ich mich nach reiflicher Überlegung dann für die ganz spartanische Variante entschieden. Emma und ich verbrachten den Heiligen Abend erstmals alleine zu Hause, ohne Weihnachtstanne, dafür aber mit einem geschmückten laublosen Ast, Fondue, Tanz und Geschenken, während der Rest der Patchwork-Familie in anderen Haushalten die üblichen Gambas zu sich nahmen.
Mit unseren burbujas, den Wahlgruppen, die wir seit Corona-Start treffen, haben wir dann nachgefeiert, einmal mit Fondue und Wanderung und einmal mexikanisch, auch mit einem ausgedehnten Spaziergang vorweg.

Silvester war Emma mit Papa bei ihren großen Geschwistern und ich habe mich für eine völlig neue Party-Variante entschieden, vor der ich mich mein ganzes Leben lang gefürchtet hatte, mit me, myself and I. Der Gedanke, das neue Jahr alleine zu beginnen, war für mich immer eine Vorstellung von absoluter Einsamkeit, sich verlassen und ungeliebt zu fühlen, verstoßen von der Welt. Mein Bruder hat vor langer Zeit einmal den letzten Jahrestag alleine verbracht und mir damals etwas trocken erzählt, dass er ein gutes Buch lesen würde und dann ins Bett ginge. Er tat mir damals schrecklich leid.
Ich nahm mir vor, mir selbst eine Hommage zu erweisen und es möglichst schön zu haben. Es gab gebratene Entenbrust und Salat und tatsächlich eine ganze Flasche Freixenet Brut mit gefrorenen Erdbeeren über den Abend verteilt. Die traditionellen uvas, Trauben, die mit den zwölf Glockenschlägen der Uhr an der Puerta de Sol eingenommen werden, habe ich banausenhaft durch zwölf Schlückchen Sekt ersetzt – der hatte nicht so viele Kerne. Ob das Glück bringt, werden wir sehen.
Es war ein passendes Ende für dieses seltsame Jahr, das uns neue Grenzen gesetzt, neue Komfortzonen geschaffen und neue Interessen kreiert hat. Und Trübsal musste ich gar keine blasen, ganz im Gegenteil, ich bin zu Dancing with myself von Billy Idol über den Parkettboden geschlittert und habe abwechselnd wild mit meinen Armen durch die Luft gerudert oder die Luftgitarre geschrubbt.
Meine Nachbarn konnten sich dann einmal mehr über die komische Deutsche wundern, die kurz nach 0 Uhr auf der Terrasse stand und „Prost Neujahr!” ins Dunkel rief. Das tat ich natürlich zunächst nur in der Annahme, dass selbstverständlich von irgendwo ein Echo zurückkäme, so wie ich es aus Deutschland gewohnt bin. Als das trotz der hell erleuchteten Fenster in den umliegenden Wohnungen, leider ausblieb, zog ich mich wieder ins Warme zurück und sang mehrfach den jährlichen Neujahrsgruß euphorisch ins Telefon – leider blieb er auch dort zunächst unbeantwortet.

Ganz traditionell habe ich mit meinem Kollegen Luis und meiner socia, Projektpartnerin Marta in Frankreich auch bei den spanischen Weihnachtslotterien mitgespielt. El gordo am 22. Dezember brachte Luis und mir immerhin 100,- Euro und El niño, am 6. Januar für Marta und mich 40,-.
Eigentlich sah für das neue Jahr doch alles ganz rosig aus, Glück im Spiel – wenigstens etwas -, viele neue Projekte und vielleicht das Wichtigste: Hoffnung auf eine baldige Corona-Impfung und die damit zurückkehrende ,alte Normalität’.

Wir saßen am 8. Januar, dem vermeintlich letzten schulfreien Freitag nach dem Frühstück am Wohnzimmertisch und spielten Fantasma-Blitz, ein Aufmerksamkeits- und Reflex-Spiel, das ich besonders mag, weil ich, nicht wie beim traditionellen Memory, noch Chancen gegen meine Tochter habe. Als ich gerade mal wieder nach dem weißen Holz-Geist griff, der auf der aufgedeckten Karte zu sehen war, um diesen Zug für mich zu entscheiden, rief Emma nur abgelenkt: 
„Mama, guck mal, es schneit!”
Nicht ohne zuvor noch die gewonnene Karte einzuheimsen, schaute ich auch nach draußen und erwiderte: „Stimmt, es schneit! Und der Schnee bleibt sogar liegen! Mal sehen wie lange.”
Danach konnte ich die Partie recht leicht für mich entscheiden, da Emmas Aufmerksamkeit durch den Schneefall ganz und gar woanders war. Wir verzichteten auf eine weitere Runde und betrachteten lieber das winterliche Schauspiel durch die großen Terrassenfenster. 

Einmal jährlich fahren wir in die Sierra de Madrid zum Schlittenfahren. Auch 2020 waren wir zwischen den Jahren noch im Schnee, bevor nun der Schnee zu uns kam. In fast zwanzig Jahren war es das erste Mal, dass ich es so viel vor meiner Haustür habe schneien sehen, wobei dadurch die Erinnerung an meinen letzten Winter an der Universität Mannheim wieder geweckt wurde, in dem die Temperatur mehrere Wochen nicht mehr über -20º Grad anstieg, der Moonboots-Look angesagt war und sich eine gewisse Après-Ski-Stimmung auf den Studentenfeten einstellte. Eisflächen auf den Bürgersteigen erschwerten die Wege in die Uni und zu den Freunden, der geräumte Schnee türmte sich an den Straßenrändern. Das hatte ich seitdem nicht mehr gesehen, da ich auch die langjährige Tradition der Skiurlaube nicht fortgeführt hatte. Emma war ein solches Erlebnis, bis auf vereinzelte Tage mit Schnee vor der Haustür bei Oma und Opa, bisher noch nicht vergönnt gewesen.

Jetzt schneite es also und sowohl direkt auf unseren Zitronen-, Orangen- und Olivenbaum, als auch auf unsere mediterranen Oleander. „Wer überlebt, bleibt!” ist meine Devise für die Bepflanzung der Terrassen, ohne zu ahnen, dass die Flora in Montecarmelo jetzt Extrembedingungen ausgesetzt werden sollte.

„Am Donnerstag nach der Schule möchte ich mit Emma nochmal in die Berge fahren”, schrieb ich Anette noch ganz euphorisch, um ihr anzubieten, sie und ihre Tochter auf einen Schlittenausflug mitzunehmen.
„Der Schnee ist jetzt ja zu uns gekommen”, kam die etwas ernüchternde Antwort, „außerdem sind in den Bergen die Straßen gesperrt und es gilt Lawinenwarnung.”
Das Sturmtief Filomena war in den ersten Januar-Tagen über Madrid hinweggezogen und sollte einen historischen Schneefall in der spanischen Hauptstadt hervorbringen. Eine solche Menge war seit 1984 nicht mehr gefallen.

„Emma, komm, zieh Schneehose, Handschuhe und dicke Schuhe an, wir gehen raus!” Für meine Tochter war diese Aufforderung der Startschuss für ein neues Abenteuer. Mitten im Sturm marschierten wir durch den schon knöchelhohen Schnee in den Pardo, um eine erste Schneefrau zu bauen. Sie sollte an der ersten Weggabelung im Naturpark stehen.
„Mama, wie macht man das denn?”, fragte mich Emma, woraufhin ich erst kleine Klöße mit ihr formte und dann daraus große Kugeln rollte, die wir aufeinander stapelten. Meine Tochter hat eine Liebe zum Detail und bastelte der Schneedame mit recht großen Brüsten, Steinaugen und Schilfhaaren schließlich eine Schnee-Baskenmütze mit Zipfelchen und beschloss, dass sie Französin sei und Schneewante hieße. Tatsächlich fehlte ihr nur das Baguette unter dem Arm. 

Es sollte noch die ganze Nacht und den ganzen folgenden Samstag weiter schneien. 
Am nächsten Morgen war von der Terrassen-Flora nicht mehr viel zu sehen, alle Töpfe waren unter einer dicken Schneedecke verschwunden, von der man das Gefühl hatte, sie wollte sich auch im Wohnzimmer und der Küche breit machen. Ein visuelles Spektakel, verschönert durch die unberührte, glitzernde Pulverschneedecke, die durch den unaufhörlichen Schneefall kontinuierlich an Höhe gewann, sodass der Ausblick nach draußen langsam eingeschränkt wurde.

„Komm, Emma, wir gehen Schneewante besuchen!”, gab ich meiner Tochter das Stichwort, die überraschenderweise schon angezogen am Frühstückstisch saß. Es kommt selten vor, dass sie auf mich warten muss, wenn wir das Haus verlassen wollen, aber diesmal holte sie sogar freiwillig alleine den Schlitten aus dem dunklen Keller, bevor ich überhaupt die Fellschuhe anziehen konnte.
Als wir aus dem Hauseingang kamen, fanden wir den Hof des Gebäudes bedeckt mit Schnee, wobei nur ein kleiner matschiger Trampelpfad es ermöglichte, zum Haustor zu gelangen. Außerhalb unserer urbanización wurde das Fortkommen erheblich schwerer, da der Schnee uns nun bis zu den Knien reichte, auf der Straße, auf dem Bürgersteig, überall.
„In Deutschland ist jeder Hausbesitzer, beziehungsweise jede Eigentümergemeinschaft oder Hausverwaltung dafür verantwortlich, den Schnee um die eigenen Gebäude zu räumen, damit mögliche Unfälle verhindert werden”, erklärte ich Emma.
„Warum wird das hier nicht gemacht?”, fragte sie mich.
„In Madrid schneit es so selten und wenn, dann nur so wenig, dass bisher keine Regeln nötig waren, um das Schneeräumen zu organisieren“.

Tatsächlich war es, als würden wir über die weiße Schneedecke geradewegs in das letzte Jahrhundert stapfen, da alles eingeschneit war, keine Autos fuhren und auf den Straßen in Montecarmelo Volksfeststimmung herrschte. Wir schienen mitten in dem Winter-Wimmelbuch zu stecken, das ich mit Emma als Kleinkind so oft ansehen musste. Unsere Nachbarn bauten an Schneewällen für eine großzügige Schneeballschlacht, die Kellner vom Restaurant auf der anderen Straßenseite ließen sich ungehemmt in die weiche Schneedecke plumpsen, um Engel abzuzeichnen, während die Kinder von gegenüber quietschend an Schneemännern bauten, die die vermeintlichen Fahrspuren für Autos blockierten.
Alles war weiß und Emma und ich hatten diesmal den Schlitten dabei, einen aus rotem Plastik, den meine Mutter früher Bob nannte. Ich zog Emma damit durch die Straße in Richtung Pardo, die dabei strahlend in die Luft schaute, ihre Zunge rausstreckte, um Schneeflocken aufzufangen und sie genüsslich schmelzen zu lassen. 

Auf dem Weg in den Pardo bahnten wir uns einen Trampelpfad durch die Schneemassen und am ersten Hang angekommen, versuchten wir unser Glück im Bob. Nach knapp zwei Metern Abfahrt steckte dieser im Pulverschnee fest. Trotz Hochbetrieb am Hang, gelang es uns aber mit Hartnäckigkeit und vielen Aufstiegen und Abfahrten eine Rodelbahn zu furchen, die bei verschiedenen spanischen Familien schnell auf Anklang stieß. Ich fragte mich kurz, ob ich wie in einem Erlebnispark für eine Fahrt im Bob nicht eine Ticket verkaufen könnte, bevor ich freizügig den Zweitgeborenen einer Familie auf die Piste ließ. 
„Ist das cool, die hat sogar Kurven”, bestätigte sein Vater, bevor das Handy gezückt wurde, um den knapp Vierjährigen bei seinem ersten Absturz zu filmen.

Als auf unserer Rodelbahn Andrang herrschte, machten wir uns auf den Weg zu Schneewante im Pardo, nicht ohne zuvor noch die anderen Schneetollen zu beobachten, die sich mit Schaumstoff-Bodybords in die weißen Wellen stürzten. Leider fanden wir von unserer Schneelady nur noch Überreste. Als wir vor ihrem vereisten Unterteil inmitten von lauter Pulverschnee standen, rief Emma ganz entsetzt:
„Das war der Schneefrauenmörder. Sie ist weg. Wer macht denn sowas und warum?”
Sie hatte Schneewante wirklich ins Herz geschlossen, beugte sich schluchzend über die vereiste Kugel am Boden und fragte mich: „Was machen wir denn jetzt mit ihr?” 
Als sie mich so mit ihren Kinderaugen ansah, hatte ich das Gefühl, ihr kämen die Tränen und konnte nicht anders, als zu antworten:
„Wir bauen sie wieder auf! Heute liegt noch viel mehr Schnee, da geht das noch viel besser!”
Die zweite Schneefrau tauften wir Königin Filmomena, da wir ihr drei kleine Steinchen auf den Kopf setzten, die wie eine Krone auf ihrer Stirn prangten. Obwohl sie etwas unwirsch aussah, mochten wir sie beide auf Anhieb. Auch sie sollte nicht unsere letzte Schneeskulptur gewesen sein. Am nächsten Morgen zerstörten wir die weiße Idylle auf der Terrasse und verwandelten sie in Filomena II. und ihre Tochter. Emma spielte den halben Tag in ,unserem’ Schnee, freute sich, dass Filomena II. und ihre Tochter vor dem Schneefrauenmörder sicher waren und befreite die Flora auf Omas Anraten von der weißen Last, während wir die Nachbarn beobachten konnten, die den Schnee mit Eimern vom Balkon in die Badewanne trugen.

Nicht nur sie schienen wegen der Schneemassen beunruhigt, auch die Hausverwaltung schickte uns ein Rundschreiben mit Tipps für das Überleben bei Minusgraden. Tatsächlich habe ich nur wenige befolgt. Weder bin ich zu Hause geblieben, noch habe ich die Rollläden geschlossen, um die Wärme einzudämmen. Die Badewanne habe ich auch nicht mit Wasser volllaufen lassen, noch die Rohre umständlich isoliert. Ich vertraue darauf, dass die Temperaturen nach ein paar Tagen wieder steigen, der Schnee schmilzt und dann alles wieder normal wird. Wahrscheinlich erinnern wir uns danach alle wieder an die herrschende Pandemie, deren dritte Welle für Januar in Spanien ja schon vorprogrammiert war.

Die Tatsache, dass die Schulen geschlossen und die Erwachsenen ins home office geschickt wurden, da derzeit die Straßen in Madrid kaum zu befahren sind, erinnert doch sehr an den Lockdown im letzten Frühjahr, nur, dass wir jetzt raus dürfen aber nicht mehr richtig können. So schön das winterliche Schauspiel auch ist, es hat zur Folge, dass die Supermärkte in Montecarmelo leer gekauft sind, dass Krankenhäuser außer mit COVID19-Patienten, jetzt auch noch mit Knochenbrüchen und Gelenkschmerzen kämpfen müssen und dass verschiedene Krankenstationen wegen der prekären Verkehrslage unterbesetzt sind. Auch wenn die meisten Schneefreunde weiterhin ihre Maske tragen, wird das Gefühl verstärkt, dass COVID19 eigentlich der Vergangenheit angehört, auch wenn die Inzidenzzahlen wieder gestiegen sind. 

„Filomena ist die einzige, die denn Mumm hatte, uns in den Lockdown zu schicken”, hieß es in einem der letzten Memes, das ich diesbezüglich bekam.
Außer einem Video, das einen Sportler zeigte, der mit Skiern durch die Straßen Madrids sauste, erreichte mich eines aus dem verschneiten Alcalá. Die Aufnahmen der katastrophalen Zustände mit umgestürzten Bäumen, abgebrochenen Ästen und Schneemassen rund um meinen Arbeitsplatz, beeindruckten mich genauso wie der ältere Herr, der das distopische Szenario kommentierte. Er lief im Slalom durch die verschneiten Straßen der Stadt, vorbei an allen Hindernissen. Wegen der Kälte vermummte Menschen kamen ihm entgegen und wichen vor seiner Kamera zurück, soweit ihnen das trotz der liegengebliebenen Autos und des Geästs noch möglich war – ein Schauplatz des Chaos: „Wir haben den Virus erlebt, nun den Schneesturm, was kann uns jetzt noch erwarten?”, fragte er seine Zuschauer resigniert, während er die Kamera auf eine verwüstete Straßenecke hielt, hinter der die vermeintlich nächste Gefahr lauerte.

Corona-Countdown

Von Annette Scholz

Deutsche Schule Madrid, © Isabell Krämer

Die Sprecher des öffentlich-rechtlichen Kultursenders Radio 3 sprachen gestern in der Vergangenheitsform über die aktuelle Corona-Situation, während sie gleichzeitig für Januar leise eine dritte Welle prognostizierten.
So wie ich jedes Jahr im Dezember reflektierten sie über die Erlebnisse des endenden Jahres, zogen Bilanz und hielten es ganz mit dem Titel ihres morgendlichen Programms: “Hoy empieza todo” – heute fängt alles an. 

In den letzten Jahren komme ich Ende Dezember eigentlich fast immer zu dem Schluss, dass das neue Jahr nur besser werden kann.
2020 hat uns verändert, vielleicht mehr als wir das bisher absehen kônnen. Neue Begriffe und Termini sind schon Teil unseres alltäglichen Wortschatzes und unserer Konversationen geworden, die wir noch vor einem Jahr nicht kannten. Sogar die Real Academia de la Lengua, die über den spanischen Wortschatz wacht, hat COVID19 als maskulines oder feminines Syndrom, das der Coronavirus verursacht, mit in ihr Wörterbuch aufgenommen.
Um 2020 zu beenden, möchte ich mein eigenes kleines Corona-ABC erstellen.

01.12.2020 A: Alarmzustand
Am 14. März 2020 wurde wegen Corona in Spanien der erste Alarm-, beziehungsweise Ausnahmezustand ausgerufen, um eine rechtliche Basis für einen totalen Lockdown zu schaffen. Sechs Wochen mussten daraufhin alle Bürger zu Hause bleiben, um durch soziale Isolation zu einer Verbesserung der sanitären Notlage mit überfüllten Krankenhäusern beizutragen.

02.12.2020 B: Begrüßung
Vor Corona war die in Spanien übliche Begrüßung zwei auf die Wangen gehauchte Küsse, egal in welchem Verhältnis man zu seinem Gegenüber stand. Seit März sollen wir jede Nähe und unnötigen Körperkontakt vermeiden, was zur Entwicklung der verschiedensten Grußvarianten geführt hat. Beliebt sind nun freundliche Fußtritte, Ellebogenklatscher oder Umarmungsgesten ohne Berührung. Ich halte es gerne mit Winnetou und grüße indem ich den rechten Arm mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger zum Herzen führe, ausstrecke und wieder auf die Brust lege. 

03.12.2020 C: Corona
Es liegt auf der Hand, dass Corona und COVID19 die beiden Worte sind, die 2020 maßgeblich bestimmt haben. Natürlich nicht nur die Worte, sondern der Virus und die Krankheit, die sie bezeichnen. Im Jahr 2020 schwingt in Spanien in dem Wort corona neben der Pandemie jedoch noch eine weitere negative Konnotation mit. Corona, die Krone, die Monarchie, die von immer größeren Teilen der Gesellschaft in Frage gestellt wird, weil der korrupte emeritierte König Juan Carlos I diesen Sommer in sein Luxusasyl nach Abu Dhabi geflohen ist.  

04.12.2020 D: Distanz
Jeder Mensch hat seinen persönlichen ,Tanzabstand’, wie Patrick Swayze ihn in “Dirty Dancing” bezeichnete. Geprägt durch die regionale Kultur und die Erziehung, mit der wir aufwachsen, kommen wir unseren Mitmenschen unter normalen Umständen mehr oder weniger nahe. Dieses Jahr wurde die soziale, beziehungsweise interpersonale Distanz in allen Ländern auf 1,5 bis 2 m vereinheitlicht, damit wir uns gegenseitig vor Corona schützen. Die ungewöhnliche Distanz, die im öffentlichen und privaten Raum eingehalten werden soll, schafft eine gewisse Sicherheit.

05.12.2020 E: Entschleunigung
Als die Regierung von Pedro Sánchez Mitte März den Alarmzustand ausrief und damit einhergehend sämtliche nicht unerlässlichen öffentlichen Aktivitäten aussetzte, wir uns zunächst nur noch in unseren Wohnungen aufhalten durften, erfuhr unser Leben eine Entschleunigung. Kein Ausgehen, keine Freunde treffen, keine Kurztrips und keine Hektik mehr. Auch wenn es für uns alle einen großen Verzicht auf gewohnte Annehmlichkeiten bedeutete, bewirkte diese Entschleunigung gleichzeitig auch eine Umorientierung, eine Suche nach neuen erfüllenden Beschäftigungen und eine Aufwertung dessen, für das unter normalen Umständen keine Zeit ist.

06.12.2020 F: Freiheit
Wir, die wir in einem freien Land zur Welt gekommen sind und keinen Krieg erleben mussten, leiden darunter, wenn wir plötzlich aus gesundheitlichen Gründen über Wochen in den eigenen vier Wänden festsitzen, mit allen nur vorstellbaren Annehmlichkeiten. Als Emma und ich zweimal dieses Jahr zu Hause bleiben mussten, stellte sich bei uns beiden eine gewisse Unzufriedenheit ein, bedingt durch Angst und soziale Isolation. Nach der Quarantäne wieder auf die Straße gehen zu können und andere Menschen zu treffen, gab uns ein zunächst unsicheres aber zufriedenes Gefühl von Freiheit.

07.12.2020 G: Granaten
Von immer mehr Bekannten wussten wir im Laufe der Zeit, dass sie von Corona betroffen waren, die Krankheit kam im Laufe des Jahres immer näher und wir hatten das Gefühl, dass die Granaten wie in einem Krieg immer dichter um uns einschlugen. Mit Emmas Ansteckung hatten wir den ,Kriegsschauplatz’ zu Hause und konnten nur hoffen, dass nicht alles verwüstet würde.

08.12.2020 H: Home office
Für viele gehörte Home office sicher auch vor Corona zum Alltag, hier in Spanien und besonders in der öffentlichen Verwaltung ist die Möglichkeit von zu Hause zu arbeiten, aber eine Neuheit. Sie birgt ein implizites Vertrauen des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer gegenüber, das nicht unbedingt selbstverständlich ist. Offensichtlich nutzen in der jetzigen Situation viele Firmen vermehrt die Heimarbeit, da sich derzeit der Berufsverkehr auf Madrids Umgehungsstraßen weniger staut.

09.12.2020 I: Infektionszahlen
Immer wieder haben wir dieses Jahr im Internet nach den aktuellen Infektionszahlen geschaut und werden es wohl auch weiterhin tun, denn sie bestimmen unsere Bewegungsfreiheit, legen fest ob wir das Haus verlassen, Restaurants besuchen oder sogar Reisen in andere Regionen oder Länder machen dürfen. In Deutschland werden bei einem Index von 50 Corona-Fällen bei 100.000 Einwohnern Maßnahmen getroffen, die in Madrid erst bei 500 Fällen pro 100.000 greifen. Wenn auch mit unterschiedlichen Maßstäben, ist die Anzahl der Infizierten in allen Ländern eine Grundlage zur Festlegung der jeweiligen Corona-Regeln.

10.12.2020 J: Jetzt und hier
Die Pandemie verhindert seit knapp einem Jahr, dass wir große Pläne schmieden, zumindest außerhalb unserer vier Wände. Kurztrips, Auslandsreisen, Familienfeiern, Partys und Zusammenkünfte, auf die wir uns unter normalen Umständen oft mit langer Vorlaufzeit freuen, fielen dieses Jahr weitestgehend aus. Das Jetzt und hier ist unser momentaner, eingeschränkter Operationsbereich, den wir mit allem füllen können, was unmittelbar erreichbar ist. Unserer Fantasie sind dabei glücklicherweise keine Grenzen gesetzt und Corona verschont auch unsere selbstgemachten Träume.

11.12.2020 K: Krankenwagen
Während des ersten Lockdowns im Frühjahr diesen Jahres, als wir nur noch für den Gang zum Supermarkt oder zum Arzt das Haus verlassen durften, waren die Straßen größtenteils leer gefegt, nur Krankenwagen und Polizei-Autos fuhren noch durch die Straßen Madrids. Die Sirenen der Krankenwagen klangen auch am Abend als Antwort auf unseren Beifall, dem wird dem Sanitätspersonal jeden Abend an den Fenstern spendeten. Seitdem weckt das Blaulicht und der Ton der Notfahrzeuge immer wieder die Erinnerung an diese merkwürdige Zeit.

12.12.2020 L: Lockdown
Einen Lockdown kannte ich zunächst nur aus Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum”, womit die langsame Abschaltung des Bordcomputers HAL 9000 bezeichnet wird, der sich im Film der Kontrolle des Raumschiffes bemächtigt hatte. Ähnlich ist es ja, nur dass wir auf der Erde bleiben und die jeweiligen Landesregierungen den Grad des Herunterfahrens beschließen. Je nach Corona-Dichte gibt es den Teil- Total- oder den Lockdown light. Emma wird Lockdown wohl immer gleich mit Corona in Verbindung bringen, nicht mit HAL und Kubrick.

13.12.2020 M: Maßnahmen
Seit März diesen Jahres leben wir beschränkt durch politische Maßnahmen, die zum Schutze unserer Gesundheit von den jeweiligen Regierungen getroffen werden. In jedem Land, sogar in jeder Region sind diese Auflagen angepasst an die Corona-Inzidenzzahlen und schränken die Einwohner mehr oder weniger ein. Vom totalen Lockdown bis zu Sperrstunden, die unser Leben nur sehr geringfügig beeinflussen, haben wir in neun Monaten alles durchlebt.

14.12.2020 N: Neue Normalität
Als Pedro Sánchez im April sein Modell ankündigte, bei dem die einzelnen Regionen Spaniens im Zwei-Wochen- Rhythmus jeweils vier verschiedene Phasen zu durchlaufen hatten, um sich nach dem Lockdown wieder zu ,akklimatisieren’, sprach er das erste Mal von der „neuen Normalität”. Alle Bürger sollten diese erreichen, um sich durch die Veränderungen der Lebensgewohnheiten vor möglichen COVID19-Ansteckungen zu schützen. Acht Monate später ist die neue Normalität Realität, wenn wir bei Durchzug und mit viel Abstand in einem Restaurant sitzen und uns durch die Maske mit unserem Tischnachbarn unterhalten.

15.12.2020 O: Online-Unterricht
Technisch war es wohl schon seit langem möglich, aber bisher noch nie von Nöten: Wer hätte auch unter anderen Umständen je über die Option nachgedacht, an Ballett-, Klavier- und Swing-Stunden über Skype, Teams, Zoom, Jitsi oder Hangout teilzunehmen? Emma ist dieses Jahr während des Lockdowns zur Ipad- und App-Expertin geworden und loggt sich über diese nicht nur selbstverständlich zu den verschiedenen Freizeitaktivitäten, sondern auch gegebenenfalls zum Schulunterricht ein. Cuando se cierra una puerta, se abre una ventana – Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich ein Fenster, wie es im Spanischen so schön heißt.

16.12.2020 P: Pandemie
Natürlich gab es Krankheiten, Epidemien und Pandemien schon vor 2020, aber ganz weit weg, nicht zu Hause. Wir wussten auch schon vor Corona, was das Wort Pandemie bedeutet, aber nicht, was es heißt, diese und ihre Folgen am eigenen Leib zu spüren. Wir wussten nicht, wie es sich anfühlt, täglich nach Sterberaten und Krankenhausbelegungen zu schauen, Angst um Familie und Freunde zu haben und sich eine Reihe von zunächst unnatürlichen Gesten zur Gewohnheit zu machen, um sich und andere vor einer Ansteckungen zu schützen.

17.12.2020 Q: Quarantäne
Corona hat mein bisheriges Quarantäne-Konzept völlig durcheinander gebracht. Bisher dachte ich immer, dass nur Haustiere in Quarantäne müssen, wenn sie von einem Land in ein anderes transportiert werden. Daher assoziiere ich mit Quarantäne immer einen Hund in einem Käfig am Flughafen. Dieses Jahr habe ich aber verstanden, dass Quarantäne nicht auf Tiere beschränkt ist, sondern sogar im Gegenteil Hunde einen gewissen Auslauf für den Menschen sichern und dass Flughäfen bei Quarantäne eher kontraindiziert sind.

18.12.2020 R: Risikogebiete
Risikogebiete gab es schon immer, so lange ich denken kann. Allerdings brachte ich mit dieser Bezeichnung bisher immer Länder in Verbindung, die meist fern von Europa in einen Krieg verwickelt oder von großen Umweltkatastrophen bedroht waren. Im Jahre 2020 wurden Italien, Frankreich und Spanien zu Risikogebieten und sind es weiterhin, solange die Corona-Zahlen nicht sinken. Auch Deutschland hat in den letzten Wochen den Status ,Risikogebiet’ erreicht. Europa hin oder her, jetzt dürfen wir zwar weiterhin ohne Passkontrolle, aber nur noch mit ,Gesundheits-Visum’ in Form von Einreiseanmeldung und Corona-Test, die jeweiligen Grenzen überschreiten.

19.12.2020 S: Sperrstunde
Bei dem Terminus Sperrstunde muss ich zunächst an Filme über Bürgerkriege denken und assoziiere Dramen über die Pinochet-Diktatur in Chile. Meine Freundin Anette denkt an England und die Sperrstunde für Pubs. Wegen Corona erleben wir hier erstmals eine Einschränkungen in unserer Freiheit, ausgehen zu dürfen. Wie Aschenputtel müssen wir nun rechtzeitig um 0 Uhr zu Hause sein, damit wir nicht zu Regelbrechern werden, verwandeln uns glücklicherweise aber nicht in Kürbisse, sondern bekommen höchstens eine Strafe aufgebrummt. Ich frage mich, ob es mir zu denken geben sollte, dass mich eine Sperrstunde von 0 Uhr bis 6 Uhr eigentlich gar nicht berührt.

20.12.2020 T: Toilettenpapier
Wer hätte gedacht, dass Toilettenpapier einmal zur Mangelware werden würde? Es hätte auch niemand geglaubt, dass wir Hamsterkäufe machen würden, um mehrere Wochen zu Hause überleben zu können, obwohl Supermärkte nie geschlossen wurden. Toilettenpapier wurde dieses Jahr zeitweise zum Luxusgut, da in den Regalen bei Alcampo manchmal die Bestände ausgingen. Emma und ich mussten während des Lockdowns gezwungenermaßen auf die grüne Variante mit Aloe Vera umsteigen, deren Duft die ganze Wohnung erfüllt. Mittlerweile haben wir uns aber so daran gewöhnt, dass wir ihr treu bleiben. Ein neuer kleiner Luxus.

21.12.2020 U: Unsicherheit
2020 sind langfristige Planungen so gut wie unmöglich geworden. Das meiste von dem, was wir uns vorgenommen hatten, mussten wir absagen, anpassen oder hatten bis zum letzten Moment die Angst, dass alles annulliert werden müsste. Unsicherheit hat das ganze Jahr geprägt, aber nicht nur in Hinblick auf Planungen, sondern auch im Umgang mit der Pandemie-Situation. Wir mussten Entscheidungen treffen: Wir waren verunsichert im Umgang mit unseren sozialen Kontakten, wen weiterhin treffen, wen nicht? Was ist gefährlich und birgt Ansteckungsgefahr, was nicht? Corona hat uns aus unserer alten Komfortzone gerissen und uns auf einen neue, ungewissen Weg geschickt.

22.12.2020 V: Virus
Virus ist mit Sicherheit das Unwort des Jahres. Es wäre schön, könnte man einfach ein Antivirus-Programm in unserem Organismus installieren, wie auf einen Computer, um uns gegen COVID19 zu schützen – am besten mit regelmäßigen Updates. Viren sind ja nichts Neues, das ganze Leben schlagen wir uns mit ihnen herum. Aber dass wir irgendwann mit einem zu kämpfen hätten, der flächendeckend das Leben der Menschen verändert, damit hätte ich nicht gerechnet. Das ist wie Science fiction. Und jetzt scheint dieses Exemplar auch schon zu mutieren, sodass die langersehnte Impfung vielleicht doch erst wieder aktualisiert werden muss, um tatsächlich zu wirken.

23.12.2020 W: Weihnachten 
Weihnachten ist jedes Jahr in vielen Familien ein Reizthema, aber auch, wie es in den unzähligen Christmas Pop Songs besungen wird, angeblich die schönste Zeit des Jahres. Diese Meinung teile ich schon lange nicht mehr, daran hat Corona auch nichts geändert. Dieses Jahr hat sich der gesellschaftliche Druck jedoch umgekehrt, statt unbedingt die Familie zusammenzuführen, sollen wir genau auf diese Zusammenkünfte verzichten. Oma und Opa in Deutschland werden wir nur am Bildschirm sehen, Papa und die Geschwister in Madrid auch. Emma und ich bleiben zum ersten Mal alleine und werden einfach nur tun, auf was wir beide richtig Lust haben.

24.12.2020 X: X-Chromosom
Statistisch gesehen, sind Männer wohl anfälliger, an COVID19 zu erkranken, als Frauen. Wissenschaftler untersuchen nun, ob diese Tatsache mit einem Enzym zusammenhängt, dass auf den X-Chromosomen zu finden ist. Erstaunlich, was in diesem einen Jahr schon alles über diesen Virus herausgefunden wurde und wie sehr sich die Informationen im Laufe der Monate überschlagen und verändert haben. Ibuprofen sollte man nicht einnehmen, wenn man Corona hat, kursierte eine Nachricht im März und Trump riet im April seinen Bürgern, sich Desinfektionsmittel gegen die Krankheit zu spritzen. Jetzt hoffen wir, dass die Nebenwirkungen der Impfungen gegen COVID19 erträglich sind und diese auch gegen die neuen Virus-Varianten schützt.

25.12.2020 Y: YouTube
Die Internet-Plattform YouTube und ihre App-Option für Handys lagen schon vor Corona hoch im Kurs. In Spanien hat sie in den Lockdown-Frühlingswochen allerdings noch 55% Nutzer zugelegt. Kinderfilme und -lieder waren in dieser Zeit besonders gefragt. Auch Emma hat dieses Jahr Gefallen an YouTube gefunden, allerdings weniger als Konsumentin, denn als Video-Künstlerin. Sie hat an ihrer Influencer-Facette gearbeitet, einen eigenen Kanal erstellt und jüngeren Mitschülern Erklärvideos aufgenommen. 

26.12.2020 Z: Zuhause
Home sweet home. So viel Zeit wie dieses Jahr haben wir noch nie zu Hause verbracht. Unsere Komfortzone in den eigenen vier Wänden war auch noch nie so wichtig. Daher haben wir es uns besonders schön gemacht und, sobald es möglich war, Umbau- und Umräumarbeiten vorgenommen, die lange schon fällig waren. Uns wurde in dieser Zeit im Eigenheim unser Glück bewusst, dass wir eine Wohnung mit Platz und Terrasse unser Zuhause nennen können und nicht wie andere mit vielen Menschen auf engem Raum und womöglich ohne Fenster leben. 

27.12.2020 Ä: Änderungen
2020 hat viele Veränderungen mit sich gebracht, im Hinblick auf unsere Bewegungsfreiheit und täglichen Abläufe. Aber nicht nur das. Corona hat unser Leben in vielerlei Hinsicht vorübergehend entschleunigt, unsere persönliche Entwicklung jedoch beschleunigt. Emma und ich sind uns darüber bewusst geworden wer und was uns in unserem Leben besonders wichtig ist, was wir brauchen, um zufrieden zu sein und wie wir miteinander umgehen sollten, um uns dauerhaft zu verstehen. 

28.12.2020 Ö: Öffentlichkeit
In den vielen Monaten, in denen wir immer wieder die öffentlichen Corona-Zahlen auf den verschiedenen Internetseiten und in den Zeitungen konsultiert haben, mussten wir uns wiederholt fragen, welche der vielen Angaben eigentlich korrekt sind. Im Hinblick auf die Vor- und Nachteile, die entsprechende Informationen für die eine oder andere politische Partei haben können, wurde uns die mediale Manipulation der Öffentlichkeit deutlicher denn je vor Augen geführt.

29.12.2020 Ü: Überraschung
Ich habe einen Freund, der keine Überraschungen mag. Bei mir ist das anders, ich freue mich über die kleinste Geste, die nicht vorhersehbar ist. Dieses Jahr musste ich lernen, dass Überraschungen aber nicht immer positiv sind. 2020 hielt, geknüpft an Corona eine Reihe weniger schöne Dinge für uns bereit, die wir nicht erwartet hatten. Aber nicht nur. Glücklicherweise ist unser Gedächtnis selektiv und vergisst die unangenehmen Erlebnisse schneller als die schönen, sodass mein Rückblick auf das letzte Jahr trotz aller unangenehmen Überraschungen positiv ausfällt.

30.12.2020 Au: Augenblicke
„Das Glück besteht nur aus kurzen Momenten”, sagte mir einmal ein Bekannter in Chile und immer mehr komme ich zu dem Schluss, dass er recht hat. Wenn ich 2020 vor meinem geistigen Auge Revue passieren lasse, kommen mir verschiedene besondere Augenblicke in den Kopf, die ich nicht vergessen werde. Emmas Geburtstag während des absoluten Lockdowns wird für sie unvergesslich sein. Schon damals sagte sie mir am Abend „Mama, ich werde diesen Geburtstag nie vergessen. Ich möchte nicht, dass er vorbei ist, er war wunderschön!”

31.12.2020 Eu: Euphorie
Nach den aktuellen Memes zu urteilen, die zum Jahresende über Handy und Internet verschickt werden, herrscht momentan ein allgemeiner Wunsch, das Jahr 2020 zu beenden und eine Euphorie, 2021 so zu beginnen, als ob schlagartig alles anders wäre. Dabei frage ich mich, ob die guten Vorsätze für nächstes Jahr ausbleiben und wir uns nur alle wünschen, dass wir zu einer gewissen ,alten’ Normalität zurückkehren können. Wenn Corona per Impfung eingedämmt wird, warten schon neue Überraschungen auf uns. Das steht fest!

Gutes neues Jahr!

30.11.2020 „Das Wunder von Madrid”

Von Annette Scholz

El Pardo, © Annette Scholz

Bauchschmerzen, Halsweh, Durchfall und etwas erhöhte Temperatur hatten mir während der Feiertage Anfang November Sorgen gemacht.
„Nur nicht krank werden, ich muss die Stellung halten”, hatte ich immer bei mir gedacht, als Hugo noch im Krankenhaus lag. Da ich nicht einschätzen konnte, ob mein Unwohlsein nur durch Sorge und Stress verursacht war oder ob es sich tatsächlich um Corona-Symptome handelte, fragte ich Emmas Kinderarzt bei einem seiner Anrufe um Rat. Er bestellte mich vorsichtshalber zu einem zweiten Schnelltest ein.

Noch am gleichen Abend stand ich mit Emma in der Schlange vor dem Ärztehaus, wurde mit ihr wieder dem ,verseuchten’ Teil zugeordnet und kam nach kurzem Warten an die Reihe, um noch einmal die unangenehme Prozedur über mich ergehen zu lassen.
Fünfzehn Minuten warten und schon kam das Ergebnis: „Immer noch negativ!”
Als ich das Festivalbüro über den neuesten Stand informierte, schrieb mir Luis erleichtert: „In diesem Zusammenhang eine negative Person zu sein, ist sehr positiv.”
Das Ergebnis änderte jedoch nichts daran, dass ich noch eine weitere Woche in Isolation verbringen musste.

Seit Emma wieder in die Schule ging, starrte ich jeden Morgen bei der Verabschiedung auf die silberfarbene Schwelle unserer Wohnungstür, die seit knapp einem Monat die offizielle Grenze meines Reiches darstellte und wagte mich nicht, sie zu übertreten. So wurde meine Tochter in den letzten Quarantäne-Tagen zu meinem Kurier in die Außenwelt, der den Müll entsorgen, Einkäufe hereintragen und Pakete beim Pförtner abholen musste.
Als für mich der Moment kam, an dem ich diese metallene Schwelle wieder übertreten durfte, schossen mir die verschiedensten Gedanken in den Kopf.
„Ich sollte mich freuen. Was soll ich denn jetzt anziehen?“, fragte ich mich, nachdem ich seit Tagen nur Jogginghosenmodelle getragen hatte.
„Und was ist, wenn es mir da draußen mit den vielen Menschen nun zu anstrengend ist?“, dachte ich noch, als ich meine gefühlt förmliche Kleidung im Spiegel begutachtete.

„Mir fällt es schwer, jetzt wieder raus zu gehen”, hatte ich meiner Mutter beim Skypen gesagt, „so schlimm fand ich es zu Hause gar nicht, bis auf die situationsbedingte Sorge, den Stress und den Streit aus Frust. Ich habe mich daran gewöhnt, mit Emma alleine zu sein und bin auch etwas träge geworden. Obwohl ich froh bin, mal wieder einen Abend für mich alleine zu haben, fällt es mir schwer, mich von ihr zu trennen, wenn sie jetzt wieder zu Hugo geht.”
„Hier in Deutschland können wir auch nicht mehr viel machen”, entgegnete mir meine Mutter, „alles ist zu, Restaurants, Theater, man kann nur noch einkaufen und zum Arzt gehen und sich Essen bestellen.”
„Dann haben wir ja in Madrid im Moment das große Los gezogen”, fand ich, „denn alles ist weiterhin offen, zwar mit gewissen Einschränkungen, aber soweit ich weiß, könnte ich weiterhin ausgehen, wenn ich das wollte.”
In den Wochen in unseren vier Wänden, in denen meine Stepps-App im Telefon durchschnittlich 250 Schritte pro Tag anzeigte, habe ich mir eine neue Komfortzone geschaffen, ein sicheres Nest, von dem aus ich alles unbeschadet über den Bildschirm oder den Zaun beobachten konnte. Plötzlich wieder aktiv werden zu müssen, kostete mich Überwindung.

Das Festival war vorbei. An der Preisverleihung hatten Emma und ich über den Streaming-Kanal teilgenommen. Es war gut besucht und kritische Stimmen blieben dieses Jahr weitestgehend stumm.
Diesmal habe ich nur das Backoffice in Madrid gestellt und nicht an der Festivalfront vor Ort mitgekämpft. Alles lief wunderbar ohne mich. Im Büro wurde ich jetzt nur noch für die undankbaren Nacharbeiten erwartet. Das Arbeitsvolumen hat abgenommen und plötzlich soll auch wieder Raum für Freizeit sein, bis die nächste Festivallawine ins Rollen kommt – the same procedure as every year.

„Weißt du, wie gerade die Auflagen sind?”, hatte mich Alexander gefragt, als er mit Anette und dem Rest der Familie neulich wieder ein paar Einkäufe in die ,Rapunzeltasche’ am Terrassenzaun legte. 
„Im Moment habe ich keine Ahnung von nichts”, gab ich zu, „ich konnte ja sowieso nicht raus, deswegen habe ich das Ganze auch nicht verfolgt.”
„Am letzten langen Wochenende hat die Polizei hier in Madrid wohl über hundert Partys auffliegen lassen”, sagte er und erzählte mir von dem, was sich derzeit draußen abspielte. „In einem Technoclub im Zentrum wurde ganz normal gefeiert, als ob es kein Corona gäbe. Die Leute tanzten und haben ein paar Selfies und Videos verschickt. Die Polizei hat spitzgekriegt, dass in dem Laden alle gegen die geltenden Regeln verstoßen und wollte ihn hochnehmen.“
„Und was ist passiert?“, fragte ich ihn.
„Der DJ hat die Musik ausgemacht, hat alle über Mikro aufgefordert, die Tanzfläche zu verlassen und die Masken aufzusetzen. Als die Polizei kam, entsprach alles den Auflagen und sie musste unverrichteter Dinge wieder abziehen.“ 
Offensichtlich wird in Madrid weiter Party gemacht. Schweiß, Geschrei, geschlossener Raum und in der Luft schwebende Corona-Tröpfchen. 
„Auf den Toiletten gab es Sex und Ecstasy”, las ich daraufhin das Zeugnis eines anonymen 28-jährigen in El País, „ich habe mir auf der Toilette eine Pille mit einem Typen geteilt, den ich dort kennengelernt habe und dann ging es richtig zur Sache. Ganz normal, Techno, Drogen und Partys wie in der Zeit ohne Pandemie.“

„Irgendwie hat man das Gefühl, alles sei tatsächlich ganz normal. Die Straßencafés und Restaurants sind weiterhin voll und die meisten Leute sitzen ohne Masken am Tisch”, berichtete mir Alexander noch, „wir gehen abends nicht mehr aus, wir bestellen lieber Essen, bevor wir uns der Gefahr aussetzen“, fügte er noch hinzu, und das, obwohl unter normalen Umständen für ihn das freitägliche Date mit seiner Gattin unantastbar ist.

Im Berliner Tagesspiegel wird vom sogenannten „Wunder von Madrid“ gesprochen, denn
während andere europäische Städte die Maßnahmen verschärfen, fordert Madrids konservativer Bürgermeister, José-Luis Martínez Almeida, die 3,3 Millionen Hauptstadtbewohner ausdrücklich auf, „auswärts einen trinken zu gehen“. Damit stellt er sich dem Appell des spanischen Gesundheitsministers, Salvador Illa entgegen, möglichst zu Hause zu bleiben, um das Ansteckungsrisiko zu verringern.

Die Coronazahlen in der Region Madrid sind gesunken, darin sind sich alle Experten einig. Mit 324 Fällen pro 100.000 Einwohner liegt Madrid jetzt unter der durchschnittlichen Inzidenzrate in Spanien, die bei etwa 465 ist. Noch vor zwei Monaten verzeichnete die Region 780 Infektionen pro 100.000 Einwohner, während der spanische Durchschnitt bei weniger als 290 lag.

Für Weihnachten erlaubt Díaz Ayusos Regierung den Madrider Einwohnern schon jetzt sich am 24., 25. und 31. Dezember und am 6. Januar zu zehnt und bis 1:30 Uhr zu treffen, obwohl der Gesundheitsminister Illa ankündigte, dass in ganz Spanien nur Familienzusammenkünfte bis zu sechs Personen und bis 1 Uhr stattfinden dürfen. Wenn das so weitergeht, wird Madrid noch zur Pilgerstätte für alle die, die mal eine Corona-Pause brauchen und das, obwohl das „Wunder von Madrid”, umstritten ist.

„Laut dem Gesundheitsministerium haben 11% der Madrider Bevölkerung seit der ersten COVID19-Welle Antikörper. Wenn wir bedenken, dass zwischen 11% und 15% der Menschen keine Antikörper bilden, obwohl sie geschützt sind, würden wir vielleicht auf 13% der Bevölkerung mit Immunität kommen. Wenn wir den Prozentsatz der Menschen hinzufügen, die sich in dieser zweiten Welle infiziert haben, können wir vielleicht davon sprechen, dass 15% oder 16% der Bevölkerung in Madrid die Krankheit überstanden haben“, sagte der Arzt Javier Padilla gegenüber der Huffingtonpost, „höchstwahrscheinlich hat dieser Gruppenschutz für die derzeitige Entwicklung eine gewisse Rolle gespielt“, fügte er hinzu.

Nicht nur der Faktor der bestehenden Immunität, sondern sowohl das verantwortungsvolle beziehungsweise ängstliche und umsichtige Verhalten großer Teile der Bevölkerung, als auch die politische Strategieänderung scheinen einen Einfluss auf den Rückgang der registrierten Corona-Fälle zu haben: „Wenn man weniger Tests macht, und wenn man Antigen-Tests statt PCR-Tests macht, entdeckt man weniger Fälle“, erläuterte ein Sprecher des spanischen Epidemiologen-Verbandes gegenüber der Berliner Tageszeitung und entlarvt das von der PP-Regionalregierung gehypte „Wunder von Madrid“ als eine statistische Trickserei.

„Du hast Superkräfte”, schrieb mir Hugo, als ich ihm das Ergebnis meines serologischen Tests mitteilte, dem ich mich auch noch unterzogen hatte, um zu wissen, ob ich Antikörper habe und die Krankheit vielleicht symptomlos an mir vorübergezogen war.
Wie oft habe ich in meinem Leben schon gehört, dass ich intelligent, lieb und stark sei und habe mich bei diesen Kommentaren immer gefragt, was mir mein Gegenüber damit eigentlich wirklich sagen möchte.
Mit körperlicher und mentaler Stärke hat es sicherlich nichts zu tun, dass bei meinem Corona-Bluttest ein negatives Ergebnis für sämtliche Antikörper herauskam. Ich bin und bleibe also negativ, egal wie viele und welche Tests ich mache.
Ein bisschen wie Wonder Woman fühle ich mich bei der Überlegung aber schon, dass die Corona-Bombe so dicht eingeschlagen war und ich diese ,Schlacht’ zumindest physisch trotzdem vollkommen unbeschadet überstanden habe.

„Das ist ein kleines Wunder”, kommentierte meine Mutter dieses Resultat.
„Vielleicht habe ich ja irgendwelche Superkräfte”, gab ich ihr zu denken oder ich habe einfach Glück gehabt, dass ich zur Blutgruppe 0+ gehöre, die laut verschiedener Studien statistisch gesehen weniger anfällig für Corona ist.

An meinem ersten Tag zurück in der ,Freiheit’ traf ich bei meinem Spaziergang durch den Pardo mitten im Feld einen älteren Herrn, trotz der herbstlichen Kühle mit freiem Oberkörper, der wie ich die Kondensstreifen am Himmel wahrgenommen hatte. „Entschuldigen Sie, was ist denn das?” fragte er mich und zeigte auf die weißen Linien am strahlend blauen Himmel.
Nachdem ich meine Kopfhörer von den Ohren genommen hatte, antwortete ich: „Ich denke, es sind Spuren von Flugzeugen. Es sind tatsächlich wieder einige unterwegs.”
„Das habe ich auch erst gedacht”, brummelte er vor sich hin, „aber das kann nicht sein, denn die verschwinden gleich wieder und diese Streifen bleiben und werden ganz breit. Das ist sicher nichts Gutes”, sinnierte er weiter, während ich mich wieder von ihm entfernte. Er hatte Angst, mir gab es Hoffnung, Flugspuren am Himmel zu sehen.
Montecarmelo liegt nicht unweit des Madrider Flughafens Barajas, an dem ich auf meinem Weg über die Autobahn nach Alcalá zweimal täglich vorbeifahre. Der rege Flugverkehr und die Flugzeuge im Landeanflug über der Autobahn prägten noch bis März dieses Jahres das Bild im Nordosten der spanischen Hauptstadt und waren dann bis auf weiteres größtenteils ausgefallen. Im April hatte der wiederkehrende Verkehrslärm auf der Autobahn etwas Beruhigendes und jetzt sind es die Flugzeuge am Himmel, die den Eindruck einer gewissen Normalität vermitteln.

Wie auch immer, Corona wird weiterhin das Weltgeschehen bestimmen, auch wenn der Virus zumindest hier nicht mehr die größten Schlagzeilen der Medien einnimmt. Politische Konflikte stehen in Spanien wieder im Mittelpunkt, Korruption, neue Gesetze und Proteste versetzen die Bürger in Aufruhr. Der Kampf zwischen den beiden Spanien wird weitergehen, dessen Manipulation durch die Medien auch. Die Corona-Infektionszahlen werden steigen und sinken und wir hoffen auf die Impfung, die uns für Anfang nächsten Jahres versprochen wird.
Wie in den Märchen, in denen alles dreimal geschehen muss, damit es zu einer Entwicklung kommt, erleben wir bis dahin vielleicht noch eine dritte Welle, mit oder ohne entsprechende Maßnahmen und der picaresca, diese zu umgehen.

24.11.2020 Beyond the wall

Von Annette Scholz

Isabells Weckmänner, © Annette Scholz

„Wie geht es dir?” schrieb ich Hugo nach einer langen schlaflosen Nacht.
„Ich bin ok. Ich werde gut versorgt, ständig wird Blut abgenommen, mein Sauerstoffgehalt überprüft oder eine Röntgenaufnahme gemacht”, antwortete er mir aus dem Krankenhaus, „diesmal muss ich hier bleiben. Ich habe eine leichte Lungenentzündung.”
„Und was machen sie dagegen?”, wollte ich wissen.
„Ich bekomme ein Antibiotikum, Kortikoide und einen Hustensaft, alles über einen Tropf, und mit Sauerstoff werde ich auch versorgt”, berichtete er, „hoffentlich dauert das alles nicht so lange.”

Als Emma schließlich aufgewacht war, kuschelte ich mich zu ihr unter die Bettdecke, um unser morgendliches Ritual zu zelebrieren.
„Hast du gut geschlafen?”, fragte ich sie.
Ja, ich habe von einem Drachenmädchen geträumt, mit großen freundlichen Augen”, erzählte sie mir mit Blick auf ihren türkis-schillernden Luftballon in Form eines Drachenkopfes, der noch von ihrem neunten Geburtstag schlaff von der Zimmerdecke hängt, „sie hat in einer Höhle in den Bergen gelebt und flog von dort immer über die Wiesen. Sie war lieb, hat mich beschützt und manchmal durfte ich auf ihr reiten.”
„Papa liegt im Krankenhaus”, unterbrach ich ihr Schwelgen etwas ungestüm, „er muss diesmal ein paar Tage dort bleiben, damit sie ihn richtig untersuchen können.”
Auf einmal wurde sie ganz still, dann liefen ihr ein paar Tränen über das Gesicht.
„Das wird schon alles wieder”, versuchte ich sie zu beruhigen, „Papa ist doch ein wilder Tiger, der lässt sich nicht so leicht besiegen. Wir rufen ihn nachher an, dann kannst du dir selbst ein Bild machen.”
In der Corona-Höhle waren wir umringt von Stoff-Hunden, Playmobil-Pferden, Steiff-Feen und einem wilden Plüsch-Schneetiger, den wir vor ein paar Jahren mal bei Ikea erstanden hatten. Die weiße Wildkatze mit schwarzen Streifen ist Emma seitdem besonders ans Herz gewachsen und liegt nun am Fuße ihrer Höhle unter dem Hochbett, um sie Tag und Nacht zu bewachen. Auf einmal bewegte er sich langsam auf sie zu, schleckte ihr die Tränen aus dem Gesicht und sagte mit einer recht weiblichen Stimme: „Liebe Emma, mach dir keine Sorgen. Ich kenne deinen Vater gut, er stammt aus meiner Familie und so ein Virus kann ihm gar nichts anhaben. Bald ist er wieder zu Hause und du kannst ihn wieder gesund in deine Arme schließen.“
Emma drückte den namenlosen Schneetiger ganz fest, streichelte ihn und machte sich stark für einen neuen Quarantäne-Tag.

„Das ist ja wie an der Berliner Mauer”, witzelte Carlos, als er mit seinen Kindern an der Straße vor unserer Terrasse stand und uns ein paar Leckereien in eine Einkaufstasche legte, die wir an einer Wäscheleine auf den Bürgersteig hinunter gelassen hatten, „wir dürfen nicht rein und ihr nicht raus. Aber hier können wir uns über die große Hürde hinweg sehen und unterhalten.”
Unser Leben auf der Terrasse wird mit einem Metallgitter vor Eindringlingen und mit einem Weide-Geflecht vor Blicken geschützt. Von innen hat man zwar den Eindruck, direkt an der Straße zu sitzen, von außen betrachtet liegt unsere Terrasse jedoch höher und man muss nach oben schauen, um uns überhaupt sehen zu können.
„Ich finde, das ist eher wie bei Game of Thrones”, erwiderte ich im Vollrausch der Kultserie, deren Staffeln ich mir an den Quarantäneabenden vorgenommen hatte, „man darf nicht auf die andere Seite der Mauer, weil dort die lebenden Toten lauern.”
„Jetzt übertreibst du aber”, wandte er etwas geschockt ein.
In der Erfolgsserie schützt eine riesige Eismauer im Norden der zentralen sieben Königreiche die Bewohner vor den Gefahren, die noch weiter im Norden, im ewigen Eis und Schnee lauern. Emma und ich leben zwar nicht in der Kälte, trotz allem fühlen wir uns jetzt manchmal wie die Corona-Zombies. Wir sind die Infizierten und von uns geht die Gefahr aus.
„Bei deinen Klassenkameraden geht das Leben normal weiter”, versuchte ich sie in den fast drei Wochen zu Hause immer wieder zu trösten, wenn sie sich an den Computer setzte und Chat-Nachrichten schrieb, die größtenteils unbeantwortet blieben, „das wäre bei dir nicht anders, wenn du weiter in die Schule gingest.”
Der soziale Kontakt mit ihren Klassenkameraden, von dem der Kinderarzt auch für die erste Woche nach der Quarantäne ausdrücklich abgeraten hatte, fehlte ihr sehr. Auch musste sie eine Einladung zum Kindergeburtstag schweren Herzens ausschlagen, weil sie ihre Freunde vor sich selbst schützen sollte.

“Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!”, sagte ich zu Emma, die wie ich wieder auf einem Stuhl stand, um über den Zaun zu schauen, als unsere Freundin Paola von der anderen Seite zuwinkte.
„Ich kann euch zwar nicht ins Kino einladen, dafür bringe ich euch aber Film, Popcorn, Schokolade und Säfte, dann macht ihr euch einen gemütlichen Abend zu Hause”, sagte sie und legte alle Mitbringsel in die ,Rapunzel-Tasche’.
In den letzten Wochen kamen immer mal wieder Freunde zu einer kurzen Stippvisite an der Terrasse vorbei und gaben kleine Überraschungen ab, was uns die Isolation etwas erheiterte. Paola brachte Kino, Isabell Brezeln und selbstgebackene Weckmänner, Anette die Einkäufe und Carlos das Mittagessen.

In fast allen Horrorfilmen treten die Toten, die doch nicht ganz tot sind und recht unappetitlich aussehen, buchstäblich in Herden auf. Auch bei Game of Thrones versteckt sich eine stetig wachsende Armee von Untoten im ewigen Eis. Die ,Unmenschen‘, die in der Regel aus dem normalen Leben ausscheiden, beginnen ein anderes in einem veränderten Zustand. Corona-Infizierte, die die Krankheit überstanden haben, führen ihr Leben auch in einem anderen Zustand fort, im besten Fall mit Antikörpern, die ihnen zumindest vorübergehend Schutz vor einer erneuten Erkrankung bieten.
Die Epidemiologen hoffen auf die Herdenimmunität, die nur durch Impfung erreicht wird, oder wenn sich alle anstecken und wieder gesund werden, sozusagen einen Prozess der Verwandlung durchmachen.
„Wir sind jetzt durch”, habe ich mich schon oft sagen hören und möchte selbst daran glauben.
Wir gehören jetzt zu dieser Herde, die zunächst die vorübergehende Immunität erreicht hat.
Was soll denn noch Schlimmeres passieren? Meine Tochter hatte den Virus nun ja, die Corona-Granaten können nicht dichter einschlagen.
Wir sind jetzt auf der anderen Seite der Mauer und damit verändert sich unser Blick auf das Szenario. Dieser neue Blickwinkel schafft eine gewisse Ruhe, da wir im Moment keine so große Angst mehr vor der Ansteckung und ihren Folgen haben müssen. Wir merken nur, dass wir noch ein wenig einsamer geworden sind, denn die anderen haben jetzt Angst vor uns.

„Ich darf wieder raus”, sagte mir Hugo am Telefon nach ein paar Tagen erleichtert, als würde er aus dem Gefängnis entlassen, „meine Werte sind wieder normal, die Entzündung unter Kontrolle und ich soll in einem Monat zu einer Nachuntersuchung mit Röntgenaufnahme kommen.”
„Da sind wir aber froh”, erwiderte ich, „dann ist ja bald alles überstanden. Fährst du wieder mit der Metro nach Hause?”, fragte ich ihn noch.
„Nein, diesmal habe ich beantragt, dass mich ein Krankenwagen nach Hause bringt. Ich möchte doch niemanden anstecken”, antwortete er ganz selbstkritisch.
„Gib es doch zu, du möchtest deinen All inclusive Abenteuer-Urlaub diesmal gebührend beenden und nochmal mit Blaulicht durch die Straßen Madrids fahren”, scherzte ich.
Hugo blieb schließlich noch eine Nacht länger im Krankenhaus und wartete fast 24 Stunden auf den Krankenwagen, weil die Schwestern vergessen hatten, ihn auf die Abholliste zu setzen.

17.11.2020 Streaming

Von Annette Scholz

Madrid in der Ferne, © Annette Scholz

„Die Unsicherheit ist zermürbend”, hatte mir Luis vor ein paar Wochen noch gesagt, als wir nach einem anstrengenden Arbeitstag an den alten Stadtmauern in Alcalá zu unseren Autos gingen, „wir machen alles, was in unserer Macht steht, damit das Festival stattfindet. Es ist aber gut möglich, dass es trotz allem abgesagt wird.”
„Ich merke, dass es in meinem Umfeld für alle lang wird. Die Angst wird größer, der Unmut steigt und sogar ich hatte am Wochenende die Krise, weil ich an Weihnachten wohl doch nicht nach Deutschland fliegen kann”, hatte ich ihm damals zur Antwort gegeben, während ich mich bei unserem Spaziergang in der Sonne daran erfreut hatte, dass mir nach der Arbeit in unserem Büro ohne Heizung draußen wieder warm wurde. 
„Jetzt war ich schon ein Jahr nicht mehr bei meinen Eltern und kann von hier nur über den Bildschirm Anteil an ihrem täglichen Leben nehmen. Im März störte mich das wenig, jetzt deprimiert es mich.”
„Meine Tochter, die ihr Studium und einen Auslandsaufenthalt in Korea planen wollte, ist auch ziemlich niedergeschlagen”, fügte Luis noch hinzu, „wir wissen alle nicht, was die Zukunft bringt und wann es wieder so etwas wie Normalität geben wird.”

Die Vorbereitung des Festivals verlief unter extremer Anspannung, in einer verkürzten Zeit mit noch mehr Stress als sonst. Von Anfang an hatten wir drei Festival-Versionen in Petto, die Präsenz-, die Online und die hybride Variante, sodass in kürzester Zeit auf die aktuellen Corona-Maßnahmen reagiert und einer der drei Varianten der Vorzug gegeben werden konnte.
„Wie machen wir das dieses Jahr mit den Publikumspreisen?”, fragten wir uns erst zwei Wochen vor dem Festival, als uns aufging, dass es wohl Präsenzveranstaltungen geben würde, die Nutzung von Papierstimmzetteln dieses Jahr aber kontraindiziert war. Plötzlich mussten Routine-Abläufe neu gestaltet werden, um sich der aktuellen Situation anzupassen, was natürlich einen zusätzlichen Arbeitsaufwand in kürzester Zeit bedeutete. 
Unter Hochdruck wurde ein digitaler Stimmzettel und eine Zugangsmöglichkeit über einen QR-Code geschaffen, um nur ein Beispiel der Modernisierungen zu nennen, die die limitierte Auflage 2020 von Alcine mit sich brachte. Das Festival hat dieses Jahr so viele Umgestaltungen erfahren wie in den letzten zehn Jahren nicht, von denen die meisten mit oder ohne COVID19 sicherlich erhalten bleiben. Die wichtigste ist dabei wohl die mögliche Teilnahme über Video-Streaming von zu Hause aus, über das ich mich in der aktuellen Situation besonders freue.
Unter allen Festival-Varianten, die wir durchgespielt hatten, gab es natürlich nicht die, bei der ich persönlich nicht anwesend sein konnte. Mir blieb also die Arbeit und dank Streaming die Möglichkeit Teile des Events am Computer zu verfolgen – mal eine ganz neue Perspektive! 

Tatsächlich findet unser ganzes Leben im Moment im Streaming-Modus statt. Draußen geht alles irgendwie weiter, die Schule, die Pandemie, die Angst und das Festival, nur ohne uns. Wir haben jetzt eine ganz ungewohnte und neue Sicherheit, da wir wissen, dass wir zunächst nichts tun können außer abwarten, hoffen, dass alles weitestgehend glimpflich verläuft und von zu Hause über den Bildschirm zuschauen, wenn uns jemand ein Zeitfenster öffnet.

Als ich wieder auf meinem Stammplatz auf dem roten Ecksofa saß, von dem ich aus der Erdgeschosswohnung den Himmel sehen kann und am Computer arbeitete, rief mich Hugo an.
„Ich habe gerade mit dem Arzt telefoniert, ich muss ins Krankenhaus. Es scheint keine gute Entwicklung zu sein, dass ich schon über eine Woche lang Fieber habe”, sagte er mir unter Tränen.
Emma war derweil unter der Dusche und hörte nicht, wie auch ich anfing zu schluchzen. 
„Oh nein, auch das noch!”, war alles, was ich sagen konnte, „wie machst du das jetzt?”
„Ich warte auf den Krankenwagen, der mich nach Moncloa in die Fundación Jiménez Díaz bringt, in der Emma geboren wurde”, gab mit Hugo zur Antwort und versuchte dabei sicher und unberührt zu wirken.

Tatsächlich schweißt Corona unsere Trennungsfamilie wieder etwas zusammen, denn die Angst, dass unsere Tochter einen ihrer Elternteile wegen COVID19 verlieren könnte, rückt unsere persönlichen Unstimmigkeiten völlig in den Hintergrund. Es ist nur noch von Bedeutung, diese Situation so unbeschadet wie möglich zu überstehen und möglichst bald wieder eine gewisse Normalität herzustellen.
„Bitte gib Bescheid, wo sie dich hinbringen, was sie mit dir machen und was die nächsten Schritte sind”, gab ich ihm noch mit auf den Weg, bevor ich darüber nachdachte, wie ich Emma wohl diese Hiobsbotschaft übermitteln könnte.
„Ja, ich schicke euch Lebenszeichen, darum geht es ja im Endeffekt”, schloss Hugo das Gespräch ab.

Als Emma aus der Dusche kam, hatte ich mich soweit gefasst, nahm sie auf meinen Schoß, drückte sie fest und sagte ihr: „Papa muss ins Krankenhaus.”
Damit löste ich bei ihr trotz aller vorgetäuschten Ruhe eine gewisse Panik aus. Sie fing erbärmlich an zu weinen und machte sich große Sorgen.
„Ich will nicht, dass Papa stirbt”, schoss es aus ihr heraus, „er ist doch nicht mehr so jung.”
Wir riefen ihn noch einmal an, damit sie sich selbst davon überzeugen konnte, dass es ihm soweit noch verhältnismäßig gut ging.
„Sie haben mich schon geröntgt, Blut abgenommen und ich warte auf Ergebnisse”, kam nach ein paar Stunden eine zuversichtliche Nachricht aus dem Krankenhaus.
„Ich bin gar nicht daran gewöhnt, dass sich so viele Menschen um mich kümmern wie hier”, fügte er noch anerkennend hinzu.
„Gib es doch zu”, witzelte ich, um unsere dunklen Gedanken etwas zu vertreiben, „du bist im Urlaub, all inclusive, mit SPA, Massage und Vollpension!”
„Du hast mich ertappt”, schrieb er zurück und machte uns mit seiner humorvollen Stimmung Hoffnung, dass alles doch nur bei einem Schrecken bleiben würde.

Als uns am Abend die Nachricht „Ich bin wieder zu Hause”, erreichte, stellten Emma und ich gleich einen Livestream direkt in seine Wohnung her.
„Es ist doch nicht so schlimm wie gedacht, ich habe keine Lungenprobleme und die Blutwerte sind ok”, erklärte er uns mit einem erleichterten Lächeln, „sie haben mir nur Kortikoide gespritzt, damit ich jetzt mit dem Fieber alles rausschwitze. Das aufregendste war die Fahrt im Krankenwagen”, fügte er noch hinzu, „ich kam mir vor wie im Film, als alle Autos Platz für uns machten”
„Haben sie dich auch wieder zurückgebracht?”, fragte ich ihn noch.
„Nein, sie haben mir gesagt, ich könne gehen und als ich fragte, wie ich wieder nach Hause käme, musste ich feststellen dass die Heimfahrt im Krankenwagen nicht mitgebucht war”, erläuterte er uns. „Ich bin mit der Metro gefahren, weil ich kein Geld für ein Taxi hatte.”

Die Quarantäne-Tage vergehen erstaunlich schnell, obwohl effektiv weniger passiert. Die Stunden verstreichen, während Emma mit Mathe kämpft, spanische Geschichten schreibt und ihre Corona-Höhle immer weiter in ein Playmobil-Feenland verwandelt. Meine Verbindung zur Außenwelt und den Dingen, die mich interessieren, sind der Computer und das Handy. Über Video, Email und Whatsapp kommuniziere ich mit meinen Kollegen, Freunden und der Familie, immer in der ersten Reihe vom roten Sofa aus. 

Leider ist die traute Zweisamkeit für Emma und mich nicht immer ein harmonisches Erlebnis. Die Stimmung zu Hause gleicht den Symptomen des Corona-Virus, die sich von einem auf den anderen Moment ändern. Je nach der täglichen Verfassung wechselt sie bei uns von guter Laune, über Anspannung, Gereiztheit bis hin zur Traurigkeit. Der Frust über die Isolation und die Angst vor den Geschehnissen braucht schließlich ein Ventil. 

Drei Tage später, nachdem wir wieder einen Quarantäne-Tag wacker überstanden hatten, erreichte mich am späten Abend wieder eine Whatsapp-Nachricht von Hugo: “Ich muss ins Krankenhaus, ich habe nicht genug Sauerstoff im Blut.”

14.11.2020 Die Guten ins Töpfchen

Von Annette Scholz

Impressionen aus der Corona-Höhle, © Annette Scholz

Emma leiden zu sehen und Angst zu haben, der Virus könnte ihr schwer schaden, nahm allen anderen Dingen in meinem Leben jede Bedeutung. Auch das Filmfestival war erstmal in den Hintergrund getreten. 
„Ist mir doch egal, ob alles vorbereitet ist”, dachte ich nur, als mir der Schrecken noch in den Gliedern saß.
Tatsächlich gab es außer der Sorge um meine Tochter, ihren Vater und der anfallenden Arbeit für mich seit der Schreckensbotschaft, dass sie ,positiv’ seien, auf einmal noch ganz andere Herausforderungen zu bewältigen. Abgesehen davon, dass Emma und ich uns an unseren neuen Alltag in der Wohnung, mit Maske und in getrennten Räumen gewöhnen mussten, wobei wir während des Lockdowns im März praktisch 24/7 aufeinander hingen, musste der Kühlschrank weiter gefüllt, das Essen auf den Tisch gebracht und ein gewisser Schulalltag hergestellt werden.

Mir war das alles zu viel, sodass ich mich, wenn ich mich nicht um Emma kümmern musste, wieder in meine Arbeit verkroch, um mir um nichts weiter Gedanken machen zu müssen. Wäre meine Tochter nicht da gewesen, hätte ich wohl von Salaten und Brot gelebt, um den Aufwand nicht zu betreiben, auch noch kochen zu müssen, und das, obwohl ich eigentlich ganz gerne mal am Herd kreativ werde.
Ganz praktische Dinge, wie den Müll in die Mülltonne werfen, wurden auf einmal zu einem Problem, wenn man nicht vor die Wohnungstür treten soll, um niemanden zu gefährden. 
„Wie komme ich jetzt an Eier für einen Kuchen, wenn ich niemanden belästigen will?”, fragte ich mich, nachdem Emma die letzte Fieberepisode überstanden hatte und stellte sogleich fest, dass dies ein Luxusproblem war. Ich nutzte also die Hefe, die noch im Kühlschrank lag, um statt bizcocho, ein Riesenblech Apfel- und Birnenkuchen mit Streuseln zu backen, den Emma und ich alleine essen können.

Abgesehen von den Eiern, bin ich sehr beruhigt, dass es uns ans nichts fehlt. Im Gegenteil, wir wurden immer richtig gut versorgt und das ohne Online-Shopping.
„Wir gehen einkaufen, sollen wir euch etwas mitbringen?”, hatte meine Nachbarin geschrieben, wofür ich sehr dankbar war. Tatsächlich kaufte sie uns beim Metzger ein so gutes Rindfleisch, wie ich es selbst noch nicht gefunden hatte.
„Am Dienstag mache ich euch einen Großeinkauf”, verkündete mir meine Freundin Isabell, „willst du etwas Bestimmtes oder Freestyle?”

Ich entschied mich für Freestyle und freute mich danach bei jedem Detail darüber, das ich aus dem Kühlschrank holte. Denn Isabell hatte außer den alltäglichen Dingen, vieles eingekauft, was bei mir normalerweise nicht in den Einkaufswagen kommt, lauter Neuentdeckungen. Auch Emma war froh über neue Gemüsesorten, den frisch gepressten Orangensaft aus der Flasche und das leckere Erdnuss-Turrón. Irgendwie erinnerte mich diese Art versorgt zu werden, an die Personal Shopper-Dienste, wie etwa Lookiero, die sich bei einigen meiner Bekannten großer Beliebtheit erfreuen. Unbekannte, denen man Vorlieben, Interessen und Geschmack über einen Fragebogen vermittelt, stellen dort Anziehsachen in einem Paket zusammen, um neuen Schwung in den eigenen Kleiderschrank zu bringen. Isabell brachte mit ihrem Osquiero-Einkauf neuen Schwung in unseren Kühlschrank, der uns in der langen Zeit alleine, bei Laune hielt. Ich freute mich schon auf den nächsten Wocheneinkauf, den Anette übernehmen wollte.

Aber nicht nur die guten Freunde halfen bei unserer Versorgung, sondern auch die liebenswerten Pförtner der Hausanlage, von Paketzustellung, über Müllentsorgung, Medikamenteneinkauf bis hin zu Churros als Überraschung zum Frühstück, kam alles unaufgefordert aus der Loge am Hauseingang.
In dieser, in gewisser Hinsicht hilfsbedürftigen Situation, war ich besonders dankbar für freundliche Gesten und tatkräftige Unterstützung. Aber nicht nur das, auch Seelenbalsam in Form von Anteilnahme und empathischen Gesprächen wurde gerne genommen. „Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot”, kam mir das Sprichwort schon seit März immer wieder in den Sinn, was nichts weiter bedeutet, als dass man in schwierigen Situationen nur auf wenige Menschen wirklich zählen kann.. 
Meine beste Freundin an der Universität sprach immer von ,roten Fäden’, die sich durch das Leben eines Menschen ziehen und meinte damit Freunde, die einen das ganze Leben begleiten. Davon gibt es in der Tat sehr wenige, jedenfalls für mich.

„Na, wie geht es euch heute?”, erreichte mich früh morgens ein Anruf von meinem Studienfreund Christian aus Hamburg, „ich kenne doch die liebe Annette, ohne Konversation und Schokolade sinkt die Stimmung.”
„Da hast du recht!”, erwiderte ich sofort, „jetzt, da ich mit dir spreche, geht es mir gleich besser.
Weißt du, es ist erstaunlich, wie die Leute jetzt auf uns reagieren”, sprach ich weiter, „alle irgendwie anders. Die meisten haben Angst, halten viel Abstand, um sich nicht anzustecken, wie unsere Nachbarn, die mich indirekt baten, doch etwas weiter vom Zaun wegzugehen, als sie Besuch von der Oma hatten. Gleichzeitig wollen sie aber auch helfen. Und manche, bei denen ich dachte, sie würden mir besonders nahe stehen, können sich überhaupt nicht in die Situation hineinfühlen und schreiben mir unverbindliche Nachrichten!”
„Vielleicht haben die Leute auch Angst davor, dich nach deinem Befinden zu fragen, weil sie nicht damit umgehen können, wenn es dir schlecht geht und sie nichts dagegen tun können”, wandte er ein.
„Vielleicht hast du recht”, räumte ich ein.
Es war nur ein kurzes Gespräch, aber es gab mir Kraft für den Tag.

So wie die allgemeine Corona-Krise gesellschaftliche Ungleichheit verstärkt und schwelende Konflikte anheizt, macht mich meine persönliche Corona-Krise auch kategorischer in meinen Empfindungen und Urteilen. Es hat eine natürliche Auslese der Personen stattgefunden, die weiter zu meinem inner circle gehören. Allein die Tatsache, dass persönliche Kontakte wegen COVID19 weitestgehend eingeschränkt werden sollen, hat bei mir wohl unterbewusst die Frage aufgeworfen, wen ich wirklich weiter sehen möchte und wen nicht. Seit Mai treffen wir außer der eigenen, nur zwei Familien in Madrid, die zu meinen engsten Freunden gehören.

10.11.2020 Corona-Kosmos

Von Annette Scholz

Deutsche Schule Madrid, Montecarmelo, © Alexander Knebe

„Auf der Gran Vía randalieren sie, setzen Mülleimer in Brand und protestieren gegen die Corona-Maßnahmen”, setzte mich Alexander über Skype von der aktuellen Lage in Madrid in Kenntnis, „dabei ist nur Sperrstunde von 0 Uhr bis 6 Uhr, was mich tatsächlich überhaupt nicht berührt.”
„Wirklich? Was ist das denn für ein Schwachsinn?”, antwortete ich etwas entsetzt, „ich bekomme im Moment gar nichts mit. Unser derzeitiges Leben spielt sich hier in unseren vier Wänden ab. Was da draußen alles absurdes passiert, tangiert mich gerade peripher.”
„Das glaube ich dir”, erwiderte er verständnisvoll, „du hast im Moment wirklich andere Sorgen.”
„Ja, ich muss von zu Hause ein Festival organisieren, bei dem ich nicht dabei sein kann”, versuchte ich die Stimmung mit etwas Ironie zu lockern.
„Wie geht es Emma und ihrem Vater?”, fragte er noch, wohlwissend, dass Emmas und Hugos Befinden derzeit meine einzigen wirklichen Sorgen waren.
„Hugo liegt weiterhin mit Fieber im Bett, hustet und hat jetzt auch noch einen Hexenschuss. Er fühlt sich nicht gut und ist erschöpft”, erstattete ich Bericht, „und Emma macht mir ein bisschen Sorgen, sie hatte heute Morgen schon 38ºC Fieber.”

Tatsächlich war Emma die ersten vier Tage unserer Quarantäne mit nur einem besorgniserregenden Fieberschub davongekommen. Vor dem langen Wochenende sagte mir ihr Kinderarzt, dass ich bei weiteren Symptomen und einer Verschlechterung ihres Zustands am Wochenende direkt in die Notaufnahmen des zuständigen Krankenhauses gehe solle.
Keine besonders schöne Aussichten für die puente, die Freunde und Bekannten bei schönstem Wetter in den umliegenden Parks verbrachten.

Leider stagnierte nach der anstrengenden Woche das Arbeitsvolumen für das Festival, sodass ich auf einmal wieder Kapazitäten zum Nachdenken hatte. Ein freier Kopf in so einer Situation tut mir gar nicht gut. Denn auf einmal hatte ich wieder Platz, um darüber nachzudenken, was alles passieren könnte, als ich versuchte auf der Terrasse in der Sonne ein wenig zu entspannen.

„Corona ist ein Arschloch”, schrieb mir neulich eine meiner Kindheitsfreundinnen aus Deutschland und bezog sich damit auf die verschiedenenen Einschränkungen, die sie wegen der Pandemie-Situation nun in Kauf nehmen muss.
„Sie hat so recht!”, fand ich, als ich am langen Wochenende ein Wimmern aus dem Kinderzimmer vernahm.
„Mama”, rief mich Emma zu sich, „mir ist so kalt.”
„Oh nein, bitte nicht wieder!”, dachte ich mir, als ich sie zusammengerollt und fröstelnd in ihrer Corona-Höhle liegen sah. Wieder in unglaublicher Geschwindigkeit war Emmas Fieber gestiegen. Sie fühlte sich schlecht und konnte sich kaum noch bewegen.
„Hex, hex!”, rief mir Bibi Blocksberg aus dem Ipad entgegen, als ich etwas unbeholfen versuchte, die Ruhe zu bewahren und an die Worte des Kinderarztes dachte:
„Ins Hospital La Paz, wenn es ihr schlechter geht.”

Nachdem ich Emma wieder eine Dosis Ibuprofen verabreicht hatte, konnte ich nicht verhindern, dass mir die Tränen übers Gesicht und unter meine Maske kullerten. Panik stieg bei diesem Szenario in mir auf.
„Wie geht es euch heute?”, fragte mich Hugo, als er mich anrief. Bei dieser Frage konnte ich die Contenance nicht mehr bewahren und fing an zu schluchzen.
„Emma geht es gar nicht gut, sie hat hohes Fieber und ist ganz apathisch. Ich weiß nicht, was ich machen soll”, ließ ich meinen Gefühle freien Lauf.
„Ruf den Notarzt an!”, gab er mir zur Antwort, „und frag, ob jemand kommen kann und nach ihr sieht.”
„Ok!”, sagte ich kleinlaut und versuchte mich wieder für den nächsten Kampf zu wappnen, nicht ohne noch ein paar weitere Tränen zu verdrücken.
Als ich nach der Notruf-Nummer suchte, meldeten sich Anette und Alexander, die uns etwas Obst und Aquarius vorbeibringen wollten.
„Brauchst du noch etwas?”, fragte mich Anette und schon fing ich wieder an zu weinen.
„Emma geht es schlecht, ich weiß nicht, was ich machen soll, ich habe solche Angst!”
„Ruf beim Arzt an!”, gaben sie mir einvernehmlich die gleiche Antwort und bestärkten mich darin, dass ich keine Skrupel zu haben bräuchte, den Notruf zu nutzen.
Nachdem sie mir auch noch die Nummer gaben, überwand ich meine Hemmungen und wählte 112, nicht ohne zuvor tief durchzuatmen, um einen halbwegs freien Kopf für dieses wichtige Gespräch zu haben.

Emma lag schlapp und leicht abwesend in ihrer Corona-Höhle, während ich in der Küche wie ein Tiger hin- und herlief, um die Zeit in den Warteschleifen des Notfalltelefons zu überbrücken. Freundlich und bestimmt schickten sie mich von der telefonischen Registrierung, über den Abgleich der Patientendaten, bis hin zur Ärztin, nicht ohne mich immer wieder darauf hinzuweisen, dass ich den Notruf nur benutzen darf, wenn es sich tatsächlich auch um einen ärztlichen Notfall handelt.
Als ich bei der Ärztin angekommen schien, warf mich das System aus der Leitung. 

Ich nutzte die Gelegenheit, um noch einmal nach Emma zu schauen.
Als sie mich mit meinen verquollenen Augen hinter den verschmierten Brillengläsern sah, nahm sie trotz ihres apathischen Zustands meine Hand und sagte:
„Mama, weine doch bitte nicht! Sei nicht traurig!”
Ich riss mich trotz aller Rührung zusammen und antwortete ihr:
„Ich mache mir Sorgen um dich und möchte nicht, dass es dir so schlecht geht.”
„Das wird schon wieder, Mama, ich habe dir doch versprochen, gegen diesen Virus zu kämpfen”, entgegnete sie mir voller Überzeugung.
Um vor ihr nicht wieder in Tränen auszubrechen, setzte ich mich über alle Vorsichtsmaßnahmen hinweg, nahm sie fest in den Arm und ging wieder in die Küche, um den zweiten Anlauf zu starten.

„Sie rufen wegen Emma Tolosa in Montecarmelo an”, entgegnete mir die neue Stimme beim Notruf, „ich verbinde sie direkt mit der Ärztin.”
„Zum Glück keine weiteren Warteschleifen”, dachte ich mir und bereitete mich auf die Fragen der Ärztin vor.
„Ihre Tochter ist corona-positiv und hat Fieber. Wie hoch ist die Temperatur?”, fragte sie mich nüchtern.
„Beim letzten Messen hatte sie 39,8ºC und das obwohl ich ihr schon vor einer Stunde die letzte Dosis Ibuprofen gegeben habe”, gab ich etwas aufgeregt zur Antwort.
„Hat sie noch andere Symptome?”, fragte die Ärztin weiter.
„Ich kann nicht richtig beurteilen, ob das Symptome sind”, erwiderte ich, “sie ist sehr apathisch und nicht unbedingt ansprechbar.”
„Das kann wegen des hohen Fiebers sein”, kommentierte sie meine Sorgen, „sie müssen unbedingt versuchen, das Fieber zu senken, um festzustellen, ob sie sich dann anders fühlt und verhält. Warum geben sie ihr Ibuprofen und nicht Paracetamol?”, fragte sie mich noch.
„Weil es mir ihr Kinderarzt verschrieben hat und ich nicht anderes habe”, erklärte ich ihr, wobei ich nicht daran dachte, dass Emma schon als Kleinkind den Geschmack des fiebersenkenden Mittels nicht mochte, der ihr Brechreiz verursachte.
„Paracetamol hilft bei Fieber besser, besorgen sie das und geben es ihr. Machen Sie ihr Wadenwickel und beobachten Sie sie. Wenn sie weiterhin apathisch und nicht ansprechbar bleibt, sollten sie mit ihr ins Krankenhaus, damit sie ein Kinderarzt untersuchen kann. Ihr zuständiges Krankenhaus ist La Paz. Haben Sie mich soweit verstanden?”, suchte sie noch Bestätigung.
„Ja, ich habe sie verstanden”, gab ich etwas blechern zurück und hatte Angst, mit dieser Situation nun alleine umgehen zu müssen.

Als ich aufgelegt hatte und wieder alleine in der kalten Küche stand, versuchte ich einen sinnvollen Gedanken zu fassen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen und konstruktiv zu bleiben. 
Mir fielen Anette und Alexander wieder ein, die mit Tochter und Hund im Pardo spazieren waren, nachdem sie uns Äpfel, Birnen und Getränke vorbeigebracht hatten.
„Sag uns, wenn wir noch etwas tun können!”, hatten sie mich liebenswürdig aufgefordert.
„Ich brauche unbedingt noch Paracetamol”, sagte ich Anette am Telefon, „ich muss Emmas Fieber dringend senken, um zu sehen, ob sie nur deswegen apathisch ist. Könnt ihr mir das in der Apotheke kaufen?”
„Klar”, antwortete sie mir kurz und bestimmt, während ich Alexander im Hintergrund noch besorgt nach unserem Befinden fragen hörte, „wir bringen es dir sofort.”
In persönlich kritischen Momenten bin ich besonders dankbar, wenn mir Entscheidungen abgenommen und Dinge vereinfacht werden, genauso wie es die beiden in diesem Moment taten.

Kurz nachdem ich Emma einen Wadenwickel verpasst hatte, klopfte es schon an der Wohnungstür. Der Pförtner hatte uns die Paracetamol-Schachtel mit einem Gummi an die Tür gehängt. Als ich öffnete, stand er noch mit gebührenden Abstand im Hauseingang, um sich nach Emmas Befinden zu erkundigen. Nach meiner kurzen Antwort ging er bedrückt, nicht ohne mir wiederholt zu bestätigen, dass ich Bescheid geben sollte, falls ich noch etwas bräuchte.

„So Emma, Paracetamol und Wadenwickel, mal sehen, ob wir dieses Fieber in den Griff kriegen!”, ging ich zuversichtlich an die Sache heran, um meiner Tochter klar zu machen, dass sie die Medizin nun nehmen müsste, auch wenn sie ihr nicht schmeckte.
„Oh nein, das ist dieser ekelhafte Saft”, erkannte Emma das Apiretal, was ihr noch von einer Fieberepisode von vor fünf Jahren in Erinnerung geblieben war.
„Das drückst du dir jetzt einmal mit der Spritze rein und spülst dann mit Wasser alles ganz schnell runter und schon hast du es hinter dir”, versicherte ich und freute mich insgeheim über die langsame Wirkung des Ibuprofen, ohne die sie für Proteste keine Kraft gehabt hätte. 
Paracetamol und Wadenwickel taten ihr Übriges und Emma wurde in ein paar Stunden wieder zu der kleinen Protestnudel, wie ich sie kenne, um am Abend fast fieberfrei und erschöpft einzuschlafen.

07.11.2020 Corona-Höhle

Von Annette Scholz

Corona-Höhle, © Annette Scholz

Wenn Corona kommt, ist auf einmal alles anders. Wie so oft, wenn man vor etwas Angst hat, macht man sich mit vielen Gedanken verrückt, wie es wohl wird, wenn der schlimmste Fall eintritt. Aber habe ich mir wirklich vorgestellt, wie jemand in der Familie an Corona erkrankt? Wenn es soweit ist, man vor vollendeten Tatsachen steht, bleibt nichts anderes übrig, als zu handeln, zu reagieren und irgendwie damit umzugehen. Viel Zeit für zermürbendes Nachdenken bleibt dann nicht mehr.

Während in Frankreich der totale Lockdown verkündet und im übrigen Europa Bars und Restaurants für einen Monat geschlossen wurden, hat Díaz Ayusos Regionalregierung einmal mehr eine wenig logische Entscheidung getroffen: Madrid wird nur an den Feiertagen abgeriegelt, Restaurants bleiben bis auf weiteres offen und auch sonst gibt es keine großen Einschränkungen – jedenfalls nimmt man die derzeit geltenden Einschränkungen als Ü40er kaum wahr. Spanien ist nach Belgien momentan das Land mit der höchsten Ansteckungsrate in Europa, aber das scheint nicht wirklich von Interesse für die hiesige Politik.

„Ich kann Sie krank schreiben”, hatte mir Ana im Ärztezentrum noch bestätigt, als sie mich von meiner zwanzigtägigen Quarantäne in Kenntnis setzte. Das klang zunächst sehr verlockend. 
„Noch bin ich ja nicht krank”, hatte ich gesagt, weil ich Luis und die anderen Kollegen eine Woche vor Festivalstart nicht hängen lassen wollte. 

Doch der Widerspruch, dass ich offiziell nicht von zu Hause arbeiten darf, liegt mir schwer im Magen. Die Nationalregierung hatte allen Arbeitgebern, soweit möglich, das home office ans Herz gelegt, die Lokalregierung in Alcalá verbietet es aber. Die Vorstellung, dass mir aus der ,illegalen Heimarbeit’ unter diesen Umständen noch ein Strick gedreht werden könnte, beunruhigt mich schon etwas. 
„Vielleicht sollte ich einfach alles an den Nagel hängen”, denke ich manchmal, vor allem, weil meine Arbeitsstelle weiterhin in Frage gestellt und nach fünfzehn Jahren öffentlich ausgeschrieben werden soll. Warum fühle ich mich einer Aktivität und einer Institution so verpflichtet, die in all den Jahren meinen Einsatz nie richtig geschätzt hat?

Jetzt war nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken, denn immer wieder erreichten mich dringende Nachrichten per Whatsapp oder Email, in denen ich gebeten wurde, noch schnell die Website zu aktualisieren, weitere Katalogseiten zu korrigieren, die fehlenden Textdateien für die Untertitelung der Filmvorführungen zu beschaffen, und die Reservierung des Lieferwagens für den Fototransport weiterzuleiten – unzählige, zeitaufwendige Kleinigkeiten, die mich wenigstens vom Grübeln abhielten. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich es hier wie ein Bekannter in Deutschland, der in seiner Arbeit immer die Beschäftigung findet, die ihn vom Nachdenken abhält und ihm damit einen scheinbar unerschütterlichen Halt bietet.
Auch ich hielt mich nun an der Arbeit fest, um bloß der Tatsache nicht ins Auge sehen zu müssen, dass ich nun wieder fast drei Wochen keinen Schritt vor die Tür setzen durfte. Noch war das Wetter gut, sodass die Aussicht auf ein paar Stunden am Tag auf der Terrasse die Stimmung verbesserten. Aber der nächste Regen ließ nicht lange auf sich warten.

Defacto ist natürlich weder die Tatsache, dass ich Alcine nun von zu Hause streamen muss und die Lorbeeren meiner Arbeit nicht in situ ernten kann, noch die Tatsache zu Hause in der Wohnung mit virtueller Anbindung an die Außenwelt bleiben zu müssen, das wirkliche Problem.
„Meine Tochter und ihr Vater haben Corona”, poppte es immer wieder in meinem Kopf auf, wenn ich ihm die Gelegenheit dazu gab, „wer weiß, wie sie diesen Virus überstehen?”
„Ich sollte mich, wenn möglich nicht anstecken”, setzen mich meine Gedanken weiter unter Druck, „denn, was ist denn mit meiner Tochter, wenn ihr Vater und ich auf einmal im Krankenhaus liegen?”
„Wie macht man das?”, fragte mich eine Freundin aus Deutschland, „sich ums Kind kümmern und sich dabei nicht anstecken?”
„So richtig habe ich darauf noch keine Antwort”, entgegnete ich ihr, „wir versuchen es mit Maske und Abstand halten, soweit das möglich ist.”
„Mama, Corona ist halb so wild”, sagte mir Emma noch an unserem ersten Tag in Quarantäne, an dem sie noch keine Symptome zeigte und nahm dabei vorlaut ihre Maske ab, „du solltest dich auch gleich anstecken, dann haben wir es alle.”
„Emma, ich kann verstehen, dass du möchtest, dass wir zu Hause keine Maske tragen, dass du mir nahe sein und mich wie immer umarmen willst”, versuchte ich ihren kindlichen Argumenten gegenüber Verständnis aufzubringen, „aber was ist denn, wenn mich der Virus schlimmer erwischt, als dich? Was machst du dann?”
Bei diesen Gedanken wurde sie nachdenklich und setzte ihre Maske für die nächsten fünf Minuten wieder auf, um dann ihrem Unmut über die Isolation mit den gleichen Argumenten erneut Luft zu machen.
Meine Diskussionen mit ihr hielten zwei Tage lang an, während denen ich mich immer wieder fragte, ob ich ihr nachgeben und mich der Situation ausliefern, oder doch trotz ihrer Unzufriedenheit weiterhin versuchen sollte, mich selbst zu schützen, in erster Linie, um weiter für sie dasein zu können.

Täglich telefonierten wir mit Hugo, der sich zu Hause ans Bett gefesselt seinem Fieber ergab und den größten Teil der Tage schlief.
„Mir geht es gut, Papa!”, beruhigte Emma sein schlechtes Gewissen jedes Mal bei unserem Videoanruf, „für mich ist das alles nicht so schlimm. Noelia und Anja müssen auch nicht in Quarantäne und meine Klasse zum Glück auch nicht.”
„Ich habe die Schule informiert”, mischte ich mich ein, „als ,enge Kontakte’ gelten nur ihre Freundinnen Noelia und Anja, mit denen sie auch außerhalb der Schule und ohne Maske Zeit verbracht hat. Vorsorglich werden die beiden bis zum langen Wochenende auch zu Hause bleiben und somit fünf Tage nicht in die Schule gehen. Alle anderen sind nicht gefährdet. Die Klassenlehrerin hat uns Emmas Schulbücher vorbeigebracht und Aufgaben geschickt. Es ist wirklich rührend, wie sich alle kümmern.”

Da sich Emma recht gut fühlte, erinnerten die ersten Tage dieser neuen Quarantäne an die im März. Wir begannen schon Pläne zu schmieden, was wir alles machen wollten, sobald meine Festivalarbeit erledigt und das Event am Laufen wäre und ich fragte Anette und Alexander schon nach der nächsten Skype-Party, um mit gebührendem Abstand, guter Musik doch noch ein paar lustige Momente zu verbringen.
Doch als am zweiten Abend das Fieber kam, änderte sich das ganze Szenario. Plötzlich verbrachten wir keine Corona-Ferien mehr mit schönem Wetter, gutem Essen und netter Gesellschaft – wie meine Großtante auf ihren Postkarten von Menorca früher immer schrieb -, sondern die Sache war auf einmal bitterernst.

„Mama, mir ist so kalt”, sagte mir Emma fröstelnd, als ich mit ihrem Abendessen aus der Küche kam. Die Zeit, die ich benötigte, um das Gemüse vom Mittag noch einmal aufzuwärmen, hatte ausgereicht, um Emmas guten in einen bedenklichen Zustand zu verändern. Sie lag plötzlich zusammengerollt auf dem Sofa unter der Decke und zitterte. Der Appetit war ihr selbstredend vergangen.
„Was ist mein Schatz?”, fragte ich sie.
„Ich fühle mich nicht gut, mir ist so kalt”, wiederholte sie. „Jetzt will ich nicht mehr, dass du auch Corona kriegst, das ist doch nicht so schön”, schob sie noch hinterher, bevor sie umgehend einschlief.

Ich ließ sie auf dem Sofa schlafen und setzte mich neben sie. Schon immer wenn sie krank war, hatte ich Probleme, sie alleine zu lassen, da ich nie das ungute Gefühl loswerden konnte, dass sie mich plötzlich brauchen könnte. Also blieb ich neben ihr sitzen, bewachte ihren Schlaf, während ich noch ein paar Festivalarbeiten erledigte.
Leider war an diesem Tag nicht mehr so viel liegengeblieben und nach ein paar Emails war ich arbeitslos. Damit verlor ich meinen Halt und die dunkelsten Gedanken suchten mich heim. 
Auf einmal hatte ich das Bedürfnis schnell einen Paten für meine Tochter zu finden, damit sie bloß nicht alleine auf der Welt sei, wenn ihr Vater und ich uns demnächst Corona im Krankenhaus ergeben würden.
Ich hatte Angst.

Am nächsten Tag war Emmas Fieber zum Glück wieder weg und als uns der Kinderarzt wie vereinbart anrief, beruhigte er mich damit, dass Fieber ein ganz normales Symptom für eine Viruserkrankung und zunächst nicht bedenklich sei, wenn keine weiteren auftreten würden.
Um die Temperatur zu senken, verschrieb er mir Ibuprofen und bestätigte mir, dass es am sinnvollsten wäre, wenn Emma alleine in ihrem Zimmer bliebe, um mich nicht auch noch anzustecken.

„Emma, was hälst du davon, wenn ich dir eine Matratze unter dein Hochbett legen und wir dir eine Höhle bauen?”, schlug ich meiner Tochter direkt im Anschluss an das Telefonat mit dem Arzt vor.
„Au ja, Mama, das ist eine tolle Idee”, erwiderte sie mir, sodass ich gleich eine breite Matratze in ihr Zimmer verfrachtete und alles ganz gemütlich einrichtete, damit sie sich in ihrer Corona-Höhle richtig wohl fühlen könnte.
Seit dem liegt die kleine Patientin in ihrer neuen Kuschelecke und hört sich weiter geduldig durch die 135 Hörspiel-Folgen von Bibi Blocksberg. Den Machern gilt ein großes Dankeschön, denn Bibi ist Emmas große Stütze.

03.11.2020 Corona-Bombe

Von Annette Scholz

Montecarmelo, © Annette Scholz

„Kannst du Emma heute von der Schule abholen?”, erreichte mich unerwartet eine Nachricht von Emmas Vater Hugo, als ich erst gefühlte fünf Minuten im Büro war und noch nicht einmal ansatzweise ein Viertel meiner täglichen Festivalarbeit erledigt hatte. „Mir geht es, als hätte mich ein Laster überrollt, habe Husten und wohl auch Fieber”, schrieb er weiter.
„Auch das noch!”, rief ich aus, sodass Luis und Gaby aufschreckten, „Emmas Vater hat schon wieder Bedenken, dass er Corona hat”, fügte ich hinzu. „Er ist zum dritten Mal seit dem Lockdown erkältet und hat Halsschmerzen. Es ist ja auch kein Wunder, in seinem Restaurant ist er dem Virus ja schließlich auch mehr oder weniger ausgesetzt, so viele Leute wie dort ein- und ausgehen. Jetzt war Emma gerade bei ihm. Ich hoffe, es ist nur wieder einer seiner bekannten Männerschnupfen. Was mache ich denn jetzt?”
Als ob es nicht damit reichen würde, dass mir beim letzten Abendessen ein Stück Zahn ausgebrochen war, aus Deutschland in der letzten Zeit einige beunruhigende Nachrichten eintrafen und mir die Zeit am Tag vor lauter Arbeit nicht mehr ausreichte, musste ich mich jetzt auch noch mit dem momentanen Corona-Protokoll vertraut machen und womöglich mit Emma zum Test gehen. Ganz zu schweigen von der Sorge, die ich mir um ihren Vater machte.

„Du solltest gleich mal beim COVID19-Notruf anrufen”, meinte Luis, als wir noch schnell einen Kaffee bei Sergio nahmen, bevor ich wieder auf die Autobahn musste, um Emma rechtzeitig von der Schule abzuholen, „damit du weisst, was du machen musst”.
„Emma kann jetzt nicht mehr zu ihrer Freundin, wenn ich arbeiten muss”, überlegte ich nur, „die Eltern gehören beide zur Risikogruppe. Dann muss ich sie mit zum Festival bringen.”
„Lass sie ruhig bei mir”, mischte sich Sergio in die Unterhaltung ein, „hier auf der Toilette ist viel Platz und man kann sie von außen verriegeln. Dort ist sie gut von allen abgeschirmt und kann niemanden anstecken.”
„Deine Tochter ist jetzt eine kleine Corona-Bombe”, witzelte Luis, „auch wenn sie keine Symptome hat, kann sie dich und auch sonst alle anstecken, wenn sie den Virus tatsächlich hat.”

Während ich den Weg von Sergios Coffee Corner zum Auto hetzte, rief ich die Corona-Nummer der Comunidad de Madrid an, um zu erfahren, was die nächsten Schritte seien, die in so einem Fall einzuleiten sind. 
„Eigentlich müssen Sie jetzt erstmal gar nichts machen”, sagte der freundliche Mann am Telefon, mit dem ich recht schnell verbunden wurde, „erstmal muss der Vater ihrer Tochter zum Test. Wenn der positiv ausfällt, sollte sich ihre Tochter auch testen lassen. Sie können auch nochmal mit dem COVID-Beauftragten der Schule sprechen, um zu sehen, ob dort zusätzliche Maßnahmen getroffen werden müssen.”
Gesagt getan, ließ ich mich im Auto über die Freisprechanlage noch mit der COVID-Expertin der Deutschen Schule verbinden, während ich schon über die Autobahn preschte. Diese sagte mir ebenfalls, dass erstmal nichts getan werden müsste, solange kein positiver Test vorliege. 
„Allerdings wäre es vielleicht sinnvoll das Testergebnis zu Hause abzuwarten”, fügte sie noch beiläufig hinzu, bevor wir wieder auflegten. So sei es!

Als ich nach meiner Rallyefahrt über die Nacional Dos an der Schule stand und nicht Papa, legte Emma die Stirn in Falten und fragte: 
„Warum bist du denn hier?”
„Papa geht es nicht so gut”, gab ich ihr zur Antwort, während ich versuchte möglichst ruhig und vertrauenserweckend zu klingen, „er hat mich gebeten, dich abzuholen, weil er Husten und Fieber hat.” 
Es dauerte nicht lange und schon liefen Emma die Tränen über das Gesicht und sie begann ganz bekümmert zu jammern, „aber ich möchte unbedingt in die Schule gehen. Wenn Papa positiv ist, dann kann ich nicht in die Schule. Das ist furchtbar.”

Dabei fiel mir wieder das neue Lieblingsspiel der vierten Klassen ein, das „Infiziert” heißt. Eigentlich ist das Spiel nichts Neues, sondern nur der Name. Soweit ich weiß, spielen die Kids einfach weiterhin fangen und statt ,versteinert’ zu sein, wenn sie erwischt werden, sind sie eben ,infiziert’ – Fangen Version 2020.

Ich konnte Emma gerade noch von herzlichen Umarmungen abhalten, bevor wir uns von ihrer Freundin verabschiedeten und schnurstracks nach Hause gingen, um Papa anzurufen.
„Wie geht es dir? Was ist denn los?”, fragte Emma über Video.
„Mir geht es nicht so gut, ich habe Husten und Fieber. Aber mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder”, gab Hugo ihr beruhigend und lächelnd zur Antwort.
Nachdem Emmas Tränen getrocknet waren und das Essen auf dem Tisch stand, machte ich mir schon wieder Gedanken über die nächsten Schritte. 
„Ich muss noch zum Zahnarzt heute und dann gehen wir auch gleich einkaufen. Das wollte ich eigentlich alles ohne dich erledigen, aber jetzt bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als mitzukommen, Emma!”, erklärte ich meiner Tochter entschuldigend, während mein Handy unentwegt klingelte und sich unzählige Arbeitsmails in meinem Posteingang sammelten.

„Mama, ich kann die Matheaufgaben nicht”, zeterte Emma herum, als wir uns nach dem Essen am Wohnzimmertisch gegenüber saßen, um unsere ,Hausaufgaben’ zu erledigen. Obwohl ich offiziell ja gar nicht aus dem home office arbeiten darf, weil es die Stadtverwaltung nicht erlaubt, sah ich schon eine lange arbeitsreiche Nacht auf mich zukommen. „Emma, es sind ganz normale Malaufgaben, natürlich kannst du das!”, gab ich ihr etwas unwirsch zur Antwort und brachte sie damit vollends zur Verzweiflung.
„Mama, ich kann das nicht!”, meckerte sie herum und hielt mich damit von der Korrektur des Festivalkatalogs ab.
„Wenn ich jetzt kein Verständnis zeige, dann ist Land unter”, dachte ich mir, während ich fast vor Wut zerplatzte. Ich gab ihr ein paar Tipps, damit sie die Aufgaben ohne Mühe selbst erledigen konnte, bevor wir zu meiner Zahnärztin aufbrachen. 

Diese zimmerte mir in Windeseile einen neuen Zahn, damit ich nicht mehr wie ein Vampir mit einer spitzen Ecke herumlaufen müsste und schaute bei dieser Gelegenheit auch nochmal in Emmas Mund und auf ihre Zahnlücken – alles paletti, nur besser putzen sollte sie. 
Ein kurzer Stop bei ALDI mit Einkauf verschiedener deutscher Produkte war das letzte, was außer Unmengen an Arbeit, noch auf dem Tagesprogramm stand.

Als ich am nächsten Morgen schon wieder am Schreibtisch saß, um die für die Festivalvorführungen nötigen Filmkopien und Untertitel zu bestellen, meldete sich Hugo aus dem Ärztezentrum:
„Diesmal war der Test nicht so unangenehm, wie beim letzten Mal!”, schrieb er beruhigt und zuversichtlich, „und ich bekomme das Ergebnis in 15 Minuten!” 
„Freut mich!”, gab ich kurz zur Antwort und widmete mich wieder meinen Emails, während Emma in ihrem Zimmer die nächste der gefühlten tausend Folgen Bibi Blocksberg anschaltete. 
„Bitte reserviere mir unbedingt einen Lieferwagen, um die Fotos der Ausstellung von Barcelona nach Alcalá zu transportieren”, hörte ich den Fotografen in seinem Audio und fragte mich, welche Autovermietung  unter den jetzigen Umständen wohl ohne Corona-Restriktionen eine Fahrt im Berlingo von Katalonien nach Madrid erlaube.

Als das Telefon knapp zwanzig Minuten später klingelte, hatte ich gerade die Europcar-Website auf dem Bildschirm. 
„Es tut mir so leid”, schniefte Hugo, „es tut mir so leid. Ich bin positiv.”
„Ich bin positiv”, klang das Echo in meinem Kopf, „ich auch!” Und nach einer kurzen Bedenkzeit folgte: „Ach du meine Güte, was mache ich denn jetzt? Ich habe doch gar keine Zeit für Corona!”
„Oh nein!”, kam mir nur über die Lippen, als schon die Tränen liefen. Auch Hugo weinte und wir verstanden uns ohne Worte, denn beide hatten wir Angst vor dem, was jetzt kommen würde.

„Emma”, schreckte ich meine Tochter vorsichtig aus ihrem ,hex, hex’ der kleinen Hexe, nachdem ich einen sofortigen Termin in unserem Ärztehaus ausmachen konnte, „wir müssen leider ganz schnell zum Arzt. Papa hat Corona und du musst sofort auch einen Test machen”.
Ihr saß der Schreck noch in den Gliedern, als wir schon auf dem Weg zum Ärztezentrum waren. Dort angekommen und in die Warteschlange eingereiht, wurden wir an der Eingangstür sortiert und nach anfänglichen Zuordnungsschwierigkeiten direkt in das Sprechzimmer der zuständigen Ärztin geschoben, die sich als Ana vorstellte. 

Wir standen jetzt auf der Seite der Infizierten, hinter den Absperrungen und wurden nach der Säuberung des gesamten Raumes freundlich von der kompetenten Medizinerin in Empfang genommen. Nachdem wir ihr kurz unseren Fall geschildert hatten, untersuchte sie Emmas Hals und Lunge und erklärte ihr, was sie als nächstes tun würde:
„Siehst du dieses feine Stäbchen? Das schiebe ich dir erst in das eine und dann in das andere Nasenloch bis ganz oben, drehe es dort ein bisschen, um Sekret zu entnehmen und das war es dann. Es geht ganz schnell, aber ich brauche deine Hilfe, du musst stillhalten und mich machen lassen.”
„Tut das weh?”, fragte Emma ganz tapfer. 
„Ich habe schon drei machen lassen”, erwiderte die Kinderärztin, „es tut nicht weh, aber ich mache dir nichts vor, es ist sehr unangenehm.”
Meine Tochter legte sich kommentarlos auf den Rücken, griff meine Hand und ließ sie machen. 
Es ging wirklich blitzschnell und schon sagte uns die Ärztin: 
„Ihr könnt jetzt 15 Minuten spazieren gehen und dann kommt ihr wieder, um das Ergebnis zu erfahren.”

Wir verließen das Sprechzimmer, um ein bisschen durch die Straßen zu laufen und Hugo anzurufen. Emma wollte natürlich wissen, ob er sich als Coronapositiver verändert hatte und ihm von ihrer heldenhaften ,Mutprobe’ erzählen. 
„Papi, ich habe es auch geschafft. Es war gar nicht so schlimm, nur sehr unangenehm”, sagte sie ihm, während er versuchte sie nicht mit seinem Husten zu übertönen.
„Schau mal, was ich kann”, hüpfte sie schon dann wieder von einem Mäuerchen herunter, als ich noch vor dem Testergebnis versuchte die unzähligen Whatsapp-Nachrichten aus dem Büro von Festivaltechnikern, Fotografen und Luis zu beantworten.

Als wir wieder im Sprechzimmer der hinter Maske, Schutzschild und im Astronautenanzug vermummten Ärztin ankamen, schüttelte diese den Kopf und begegnete uns mit einem „wider Erwarten ist sie auch positiv. Ich habe meinen Kollegen gebeten, bei Ihnen vor seinem Schichtwechsel auch noch einen Test zu machen, damit sie über alles Bescheid wissen.”
Wir hatten noch nicht einmal Zeit, den Schock zu verarbeiten, da schickte sie mich schon ins Nebenzimmer, wo der Vermummte mit dem langen Teststäbchen in der Hand auf mich wartete. Hinsetzen, Kopf zurück, einführen, fertig. 
„Ja, es ist wirklich sehr unangenehm!” dachte ich nur.

Und wieder machten wir einen Rundgang, nicht ohne Hugo noch einmal anzurufen, um ihm Emmas Ergebnis mitzuteilen.
„Es tut mir so leid!”, wiederholte er wieder, „ich bringe alles durcheinander. Ich habe euch alle angesteckt!”
„Papa, jetzt entschuldige dich nicht, du kannst doch nichts dafür”, gab Emma ganz gefasst zur Antwort.
„Drei zum Preis von einem”, versuchte ich die Stimmung aufzulockern, „drei Tests an einem Tag, alles auf einmal und wir sind rundum versorgt.”
„Bitte ruft mich wieder an”, wenn ihr das Ergebnis wisst, bat er uns.
Die unzähligen Emails im Posteingang, die ich von meinem Handy aus einsehen kann, hielten mich von negativen Corona-Gedanken ab, da ich mir immer nur wieder die Frage stellte, wie ich das heute noch alles schaffen sollte, ohne die geordnete Festivalvorbereitung zu stören.

15 Minuten später standen wir wieder bei Ana, die mir nun mein Ergebnis verkündete: „Sie sind negativ!” 
Nachdem sie meinen verdatterten Gesichtsausdruck sah, nahm sie eine Art Arbeitsblatt mit Feldern zum Ankreuzen und Pfeilen zur Hand und begann mit ihren Erklärungen: „Emma ist positiv, das heißt, sie müssen die Schule informieren und sie muss zehn Tage in Quarantäne. Sie sind negativ, müssen aber mit ihr in Quarantäne, um sich um sie zu kümmern. Während Sie mit ihr zu Hause sind, besteht die Möglichkeit, dass Sie sich anstecken, weswegen Sie nach den ersten zehn Tagen noch weitere zehn Tage zu Hause bleiben müssen.” 
Als sie meinen ungläubigen Blick sah, bestätigte sie: „Ja, richtig, für Sie sind das zwanzig Tage Isolation. So und jetzt gehen Sie nach Hause, verarbeiten diese Information und schauen, wie Sie sich organisieren.”

27.10.2020 Politischer Herbst

Von Annette Scholz

Plaza Cervantes, Alcalá de Henares, © Annette Scholz

Mit Einbruch des schlechten Wetters, laufe ich im Moment eher im ,Nachtmodus’ durch die Stadt, wie es Luis neulich nannte, als seine Brille durch die Feuchtigkeit und das Ausatmen unter der Maske völlig beschlagen war. Tatsächlich schützt das neue Modeaccessoire zwar die Mundpartie gegen Kälte, aber sehen lässt sich als Brillenträger nicht mehr wirklich viel, weder mit, noch ohne Sehhilfe. Zusätzlich erschwert wird dieser Effekt beim Eintreten in ein Lokal durch den Unterschied der Außen- und Innentemperaturen.

„Na, wie läuft es mit eurem Festival?”, fragte uns unser Kollege, der für sämtliche Freiluft-Events der Stadtverwaltung zuständig ist, als wir mit beschlagenen Brillen wie er für unseren Café con leche bei Sergio einfielen.
Limitado”, gab ich ihm zur Antwort, „wir tun so, als gäbe es in ein paar Wochen ein Festival ohne Filmemacher, nur für die Bürger der Stadt, obwohl alles so aussieht, als würde die Veranstaltung im letzten Moment doch noch abgeblasen und wir könnten unser Festival selbst von zu Hause streamen”.
„Wenn ich euch erzähle, was mich in den nächsten Monaten erwartet, dann glaubt ihr das nicht”, konterte er gewitzt, während Luis, unsere Praktikantin Gaby und ich die Ohren spitzten und Sergio hinter dem Tresen die Kaffeemaschine heiß laufen ließ.
„Ich soll die cabalgata de reyes – den traditionellen Umzug der Heiligen Drei Könige am 5. Januar organisieren”, sagte er nur kopfschüttelnd.
„Gibt es da auch eine limitierte Auflage wie beim Festival?”, fragte ich ihn, „vielleicht nur mit einem König?”
„Dazu könnt sie ja den Emeritierten einspannen, der reitet dann auf einem Kamel durch die Stadt”, ergänzte Luis meine Idee.

Wir malten uns weiterhin aus, wie die traditionelle Parade mit COVID19-Maßnahmen wohl aussehen werde. Um sich an die Sicherheitsvorgaben zu halten, sollte die Veranstaltung wohl eher virtuell stattfinden, kamen wir zu dem Schluss, und ohne den üblichen Bonbon-Wurf, der den Kindern so viel Freude macht. COVID-Bonbons stehen im Moment nicht besonders hoch im Kurs und Massenandrang sowieso nicht. Obwohl Alcalá de Henares im örtlichen Käseblättchen damit wirbt, dass sie die ,beste’ Stadt in Corona-Fällen sei und damit stolz verkündet laut dem jüngsten epidemiologischen COVID19-Bericht die Gemeinde in der Region Madrid mit mehr als 50.000 Einwohnern mit dem niedrigsten Corona-Quotienten in den letzten 14 Tagen zu sein – ganz im Gegensatz zur Nachbargemeinde Torrejón de Ardoz. – Ist das ein Grund stolz zu sein?
Zumindest macht es uns im Büro Hoffnung, dass wir den derzeit doch sehr intensiven Aufwand für das anstehende Filmfestival nicht ganz umsonst betreiben und die Alcalaínos hoffentlich trotz Corona davon profitieren können.

Kaum war das Ende des Alarmzustandes in Madrid abzusehen, fing das politische Hickhack wieder an, wer die nächsten Maßnahmen treffen sollte. Wie diese aussehen, scheint nebensächlich, nur wer dafür verantwortlich gemacht werden kann, ist in erster Linie von Bedeutung.

Ganz Europa wird momentan von der zweiten Corona-Welle erfasst, in Deutschland werden restriktive Maßnahmen ergriffen, Tschechien ist abgeriegelt und im Nachbarland Frankreich wurde letzte Woche zur Eindämmung des Virus zunächst in den großen Städten eine Ausgangssperre ab 21 Uhr verhängt. Auch in Spanien sollen die nächtlichen Aktivitäten dezimiert werden. Der große Unterschied ist, dass bei den europäischen Nachbarn schon Maßnahmen in Kraft treten, wenn ein Quotient von 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner festgestellt wird. Hier hingegen wird erst bei 500 Infizierten pro 100.000 Einwohnern etwas getan. Eine Ausgangssperre ab 21 Uhr ist für Spanien auch unpassend, da um diese Uhrzeit noch keiner zu Abend gegessen hat.

Bei dem Ausdruck toque de queda schwingt hier auch sehr der Gedanke an Krieg und lateinamerikanische Diktaturen mit, weswegen er aus rhetorischen Gründen weitestgehend vermieden wird. Stattdessen ist in Madrid nun ein Verbot sozialer Versammlungen von 0 Uhr bis 6 Uhr verhängt worden. Während die Regierung der nördlichen Region Navarra mittlerweile selbst entschieden hat, die Grenzen der Region dicht zu machen, beharrt Madrids Präsidentin Díaz Ayuso in diesem Kontext hingegen immer noch auf der Abriegelung von einzelnen Stadtvierteln beziehungsweise Gesundheitsbezirken, statt weitläufigere Maßnahmen zu treffen.

Seit Samstag, den 24. Oktober müssen wir hier in Spanien also alle wie Aschenputtel um Mitternacht zu Hause sein. Nicht dass diese Maßnahme eine Veränderung von Emmas und meinen Lebensgewohnheiten bedeuten würde, aber ich frage mich, ob ich es mal darauf ankommen lassen sollte, um zu sehen, ob ich mich eventuell in einen Kürbis verwandele, wenn ich um 0:01 Uhr noch auf der Straße stehe. Der Zauber endet um Mitternacht, Bars schließen und die Party muss zu Hause stattfinden, bis morgens um 6 Uhr, damit man ganz legal wieder nach Hause gehen kann.

„Ich verspreche dir, ich gehe nie wieder mit so vielen Leuten einen trinken” sagte der achtzehnjährige Pedro aus Madrid gegenüber der Zeitung ABC, der wegen eines positiven COVID19-Test in Quarantäne musste. Am Samstag, dem 10. Oktober, an dem der zweite Alarmzustand in der Hauptstadt in Kraft trat, nutzte er die Gelegenheit, dass ein Kumpel sturmfreie Bude hatte, um mit knapp zwanzig Freunden in einem kleinen Raum von 22:30 Uhr bis 5 Uhr morgens, ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen – weder Masken, noch Abstand, noch Belüftung ein Sit In auf engem Raum zu veranstalten. Alkohol gab es wohl in Hülle und Fülle und eine kurze Illusion dessen, was die Volljährigkeit vor der Pandemie bedeutete. Der Unterschied ist, dass heute sieben der 18 Freunde corona-infiziert sind, auch Pedro. Seine Eltern haben keine Ahnung, wie oder wo er sich angesteckt hat, genauso wenig, wie die seiner Klassenkameraden.

Das sind nicht die einzigen Fälle in Spanien. Obwohl das Gesundheitsministerium keine Daten darüber veröffentlicht, wie viele Infektionen durch ein aktives Nachtleben verschuldet sind, ist bekannt, dass in der letzten Zeit nach wie vor im sozialen Bereich die meisten Ansteckungen stattfinden. Konkret machen sie 29,8% der Ausbrüche und 26,9% aller registrierten Fälle aus. Und allein in Familien- und Freundeskreisen wurden in dieser Woche 338 Ausbrüche mit 2.060 Infizierten festgestellt, gegenüber 193 Ausbrüchen und 1.263 Fällen vor nur einer Woche. Deshalb sagte der Leiter des Notstandszentrums Fernando Simon: „Eine Einschränkung der nächtlichen Mobilität könnte die Kontrolle der Übertragung erheblich erleichtern, da die gravierendsten Ausbrüche in diesem Moment stattfinden“.

In ganz Europa steigen die Fälle und hier werden die Menschen aufgefordert, nachts nicht mehr aus dem Haus zu gehen. „Ist das nicht ein bisschen wenig, um die jetzige Situation unter Kontrolle zu bringen?”, frage ich mich.
Nach den Statistiken, die der Wissenschaftler Andreas Burkert auf seiner Website veröffentlicht, ist Spanien in zwei Wochen das von Corona weltweit am schlimmsten betroffene Land, vor den USA, Indien und Südamerika. Nur in Israel gehen die Zahlen weiterhin nach unten, da sie dort schon seit Mitte September wieder im Lockdown sind. 

Hier in Spanien haben die Politiker aber offensichtlich noch größere Sorgen, als ihre Bürger vor einer Pandemie zu schützen, denn Pedro Sánchez’ Regierung musste sich in der letzten Wochen stundenlangen Vorwürfen aus dem rechtsradikalen Lager aussetzen. Santiago Abascal, der Vorsitzende der Vox-Partei, brachte sein Misstrauensvotum gegenüber der PSOE ins Parlament, aber verließ den Kongress nach einer großen Niederlage, da er schließlich nur auf die Unterstützung der 52 Abgeordneten seiner Partei zählen konnte, die gegen die restlichen 298 nicht viel ausrichten konnten. Viele Stunden parlamentarischer Debatten wurden genutzt, um die Position von Vox als eine rechtsextreme Partei sichtbar zu machen, die sich von der PP unterscheidet und so die einzige ist, die sich der „sozial-kommunistischen Regierung, die Vereinbarungen mit Unabhängigkeitskämpfern und Pro-Unabhängigkeitskämpfern trifft“, entgegenstellt.

Der Wendepunkt in der Debatte kam, als sich der PP Oppositionsführer Casado mit einer sehr harten Rede gegen die rechtsextreme Partei stellte. Der Vorsitzende der PP, gefangen zwischen dem Radikalismus Abascals und den Strategien der Regierung, konzentrierte sich in seinem Diskurs auf den politischen und persönlichen Bruch mit Vox. „Wir wollen nicht so sein wie Sie“, sagte er in seiner Rede und positionierte sich und seine Partei wieder näher der zentralen Politik der PSOE, statt der rechten Extreme.
Tatsächlich ging Pedro Sánchez gestärkt aus dem langatmigen Schlagabtausch zwischen den Oppositionsparteien hervor, und es wirkt derzeit, als würde er nicht mehr von allen Seiten aufgrund seiner Entscheidungen angegriffen.

Wegen der Verschärfung der Corona-Situation haben sogar die zehn autonomen Gemeinschaften Asturien, Extremadura, La Rioja, Navarra, Castilla-La Mancha, Kantabrien, Baskenland, Katalonien, Valencia, Balearen und die Stadt Melilla, von der jedoch keine von der PP regiert wird, um die Einführung des Alarmzustands gebeten, um eine einheitliche Antwort auf die Eskalation der COVID19-Fälle zu geben und die nächtliche  Ausgangssperre rechtlich abzusichern. Bis Anfang Mai 2021 soll der Alarmzustand verlängert werden, Reisen von einer Region in die andere werden verboten, während die Ausgangssperre je nach Region von 22 Uhr, 23 Uhr oder 0 Uhr bis 6 Uhr festgelegt ist. –  In Madrid halten wir es lieber mit Aschenputtel, um 0 Uhr ist Schicht! 

Somit wird wieder von oben vorgegeben, welches die nächsten Corona-Schritte in Spanien sind, während die Regionalregierungen die konkrete Umsetzung in ihrer Region jeweils selbst bestimmen. Vielleicht gibt es auf diese Weise eine positivere Entwicklung, schön wäre es ja. Wie der Leiter des hiesigen Goethe Instituts Reinhard Maiworm in seinem Interview gegenüber dem Tagesspiegel signalisierte, mag eine bessere Akzeptanz der Vorgaben von oben daran liegen, dass die Spanier aufgrund ihrer jüngeren Geschichte autoritätshöriger sind. In Spanien gab es keine Aufarbeitung der Diktatur, das Franco-Regime hat seine Nachfolge weitestgehend selbst organisiert. Es gibt in der Gesellschaft keinen Konsens darüber, dass das ein verbrecherisches Regime war. Autoritäre Strukturen werden daher in anderem Maße hinterfragt.